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Freizeitbereich einer Schule in dem geflüchtete Kinder gemalt haben.

Mit Geflüchteten forschen

30. März 2017

Auch wenn nichts den persönlichen Kontakt und die direkte Hilfe ersetzen kann, so stießen Wissenschaftler*innen der Hochschule für Gesundheit bei Projekten mit Geflüchteten doch immer wieder auf digitale Hilfsmittel, wie Smartphones und Apps. Sie erleichterten ihnen das Forschen, aber auch die Netzwerkarbeit und den Kontakt zu Geflüchteten.

„Forschendes Lernen mit dem Ansatz, mit Nicht-Wissenschaftler*innen gemeinsam zu forschen“: Das war das Thema von Prof. Dr. Christiane Falge, Professorin ‚Gesundheit und Diversity‘ am hsg-Department of Community Health, als sie mit einem Team von Student*innen gemeinsam mit Geflüchteten in einer Bochumer Flüchtlingseinrichtung forschte.

Was genau versteht man unter „Forschendem Lernen“?

Prof. Dr. Christiane Falge: Ich bin Ethnologin, forsche also in fremden Lebenswelten, insofern kommt dieser methodische Ansatz aus meiner Disziplin heraus und ist unsere Hauptmethode, die vor allem aus der teilnehmenden Beobachtung besteht. Man lernt die Lebenswelt der anderen kennen, taucht darin ein und lernt sie zu verstehen.

In ihrem Fall kam aber noch ein partizipativer – also teilnehmender – Ansatz hinzu.

Falge: Genau. Es wird momentan so viel über Geflüchtete geforscht, dass sich einige Geflüchtete jetzt schon „überforscht“ fühlten. Daher der partizipativen Ansatz, der zum Ziel hat, gemeinsam mit den Geflüchteten zu forschen.

Wie macht man das?

Falge: Wir sind ohne Forschungsdesign in die Flüchtlingseinrichtung gegangen, haben uns mit einer Gruppe Geflüchteter zusammengesetzt. Jede Woche einen kompletten Tag lang. Und das über zwölf Wochen. Wir wollten begreifen, welche Themen sie beschäftigen.

Und welche waren das?

Falge: Ihre größte Sorge war, dass sich ihre Familien noch immer in der Türkei oder sogar in Syrien befanden. Deshalb wollten sie vor allem wissen, wie man die Familienzusammenführung durchsetzt – das stand über allem, denn die Leute waren noch nicht angekommen. Sie fühlten sich halb zuhause und halb hier, weil ihre engsten Familienmitglieder nicht herkommen durften.

Schild vor der Tür des Arbeiter-Samariter-Bunds.
Das Schild hängt vor der Tür des Arbeiter-Samariter-Bundes. Die Angebote der Sanitäter*innen begrenzen sich auf die Vermittlung an Ärzt*innen. Foto: hsg-Bochum

Und in Bezug auf das Thema Gesundheit?

Falge: Spielte die psychische Gesundheit die größte Rolle, denn alle sind psychisch stark belastet. Es gab eine Frau, die aufgrund der Schiffsüberfahrt traumatisiert war und jede Nacht schrie und weinte, weil sie immer wieder an dieses Erlebnis auf der See erinnert wurde. In diesem Fall konnten wir durchsetzen, dass sie nicht aufs Dorf transferiert wird, sondern in eine Stadt, denn dort sind die Chancen auf psychologische Hilfe trotz langer Wartezeiten am größten.

Das heißt, Sie haben auch ganz konkret geholfen?

Falge: Ja, denn Teil des kollaborativen, also partizipatorischen, Forschungsansatzes, bei dem man auf Augenhöhe mit Nicht-Wissenschaftler*innen forscht, ist, dass sich die Situation der Menschen, mit denen man zusammen forscht, verbessert. Die Forschung ist anwendungsorientiert und auf die Forschung folgt unmittelbar eine Verbesserung der Situation. Wir haben es geschafft, dass ein elfjähriger Junge, der schon acht Monate lang dort war – als einziges Kind mit hundert anderen Männern und seinem alleinerziehenden Vater – und nicht beschult wurde, endlich in die Schule durfte. Gerade wenn es um Übersetzungen ging, war uns die Digitalisierung eine große Hilfe.

Inwiefern?

Falge: Ich habe zum Beispiel über WhatsApp mit einer Frau kommuniziert, die nur Spanisch und Arabisch spricht. Das kann man sich dann über Google gleich übersetzen lassen. Alle Geflüchteten haben Smartphones, ohne die sie ihre Flucht oftmals gar nicht geschafft hätten. Für viele sind sie der einzige Kontakt zur Heimat. In der Flüchtlingseinrichtung gab es ein Brett mit Steckdosen, das über und über mit Smartphones bedeckt war. Dass es dort kein W-Lan gab, war eine Katastrophe. Da saßen die Geflüchteten und hatten nur sinnlose Apps, mit denen sie versuchten Deutsch zu lernen. Denn ihr Bedürfnis, schnell die deutsche Sprache zu sprechen und zu verstehen, ist extrem groß.

„Alle Geflüchteten haben Smartphones, ohne die sie ihre Flucht oftmals gar nicht geschafft hätten.“

Das heißt, man müsste die Digitalisierung viel stärker nutzen.

Falge: Ja, das wäre auch wichtig, um sich schneller zu vernetzen, zum Beispiel wenn jemand Hilfe bei Behördengängen oder Übersetzungen benötigt. Es gibt Beispiele, bei denen sich Ehrenamtliche über Chatprogramme oder andere digitale Anwendungen organisieren – mit großem Erfolg. Sogar das Deutschlernen klappt auf diesem Weg. Ein Ehrenamtlicher lernte mit einem Geflüchteten über eine App, in die man Deutsch reinspricht und es dann direkt ins Arabische übersetzt wird.

Was war ihre prägendste Erkenntnis aus diesem Projekt?

Falge: Dass wir eine Unterversorgung für die stark traumatisierten Fälle haben. Klar, viele finden eine Art mit ihren Erlebnissen umzugehen. Aber für die, die es wirklich brauchen, haben wir keine Versorgung.

Das Interview führte Tanja Breukelchen, freie Journalistin.
Aufmacher: hsg

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