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Foto: Franka Beutner

Bewusstsein für Kinder mit Sehbeeinträchtigung stärken

31. März 2022

„Mein Lebenslauf sieht aus wie eine perfekt aufgereihte Perlenkette“, sagt Prof. Dr. Verena Kerkmann. Sie lacht und verrät dann: „Dabei war nichts von alledem geplant.“ Seit März 2022 bekleidet sie die erste Stiftungsprofessur der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum. Eine Professur zur Rehabilitationswissenschaft, in deren Mittelpunkt Kinder und Jugendliche mit einer unentdeckten Sehbeeinträchtigung stehen. Verena Kerkmann kann es kaum erwarten, sich an die Arbeit zu machen: „Es wird Zeit, denn es gibt eine große Lücke zwischen den Erkenntnissen, die die Forschung seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu dem Themengebiet bereitstellt und den tatsächlich verfügbaren Beratungsstrukturen für Familien und Kinder.“

Dem Phänomen der visuellen Wahrnehmung ist Prof. Dr. Verena Kerkmann bereits als Schülerin aufgeschlossen. Ihr Lieblingsfach in der Schule? Biologie. „Ich fand die Frage, wie der Körper funktioniert und vor allem, ob wir alle gleich sehen und wahrnehmen total spannend. Mein zweites Lieblingsfach war Kunst. Die Unterschiedlichkeit in der Wahrnehmung kommt in der Kunst voll zum Ausdruck.“ Als Kind des Ruhrgebiets in Bochum aufgewachsen, zieht es Verena Kerkmann nach dem Abitur an die Technische Universität Dortmund. Sie schreibt sich für den Diplomstudiengang Rehabilitationspädagogik ein, der für Arbeitsgebiete in interprofessionellen Kontexten befähigt und wählt den Schwerpunkt Frühförderung. „Mir liegen Organisation und Struktur, aber damals war unklar, wohin mich dieses Studium führen würde. Ich bin nach meinen Interessen gegangen und habe mit Neugier neue Felder erschlossen“, erzählt Verena Kerkmann. Als Studentische Hilfskraft im Lehrgebiet Rehabilitation und Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens eröffnete sich ihr der ganze Kosmos des Themengebiets. Der Schlüsselmoment, der sie nicht mehr losließ und bis heute trägt, ist eine Lehrveranstaltung, in der Verena Kerkmann das Video eines kleinen finnischen Mädchens sieht. „Vier Monate alt, mit Verdacht auf frühkindlichen Autismus, wandte sie sich immer wieder vom Gesicht ihrer Mutter ab. Dann setzte die Augenärztin dem Baby eine Brille auf, das Kind blickte plötzlich in die Augen der Mutter – und lächelte.“

Prof. Dr. Christian Timmreck (li.), Präsident der HS Gesundheit und Prof. Dr. Christian Thiel, Dekan des Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften überreichten Prof. Dr. Verena Kerkmann die Urkunde zur Stiftungsprofessur.
Foto: HS Gesundheit/jmj
Prof. Dr. Christian Timmreck (li.), Präsident der HS Gesundheit und Prof. Dr. Christian Thiel, Dekan des Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften, überreichten Prof. Dr. Verena Kerkmann die Urkunde zur Stiftungsprofessur.

Verena Kerkmann lässt das Themengebiet des Sehens und visuellen Wahrnehmens fortan nicht mehr los. Für ihre Diplomarbeit zieht sie nach Hongkong und erforscht international vergleichend, wie Familien mit Kindern, die eine Sehbeeinträchtigung haben, zur Frühförderung gelangen. Später vertieft sie das Themengebiet als Doktorandin aus ihrer Wahlheimat Hamburg. Sie deckt auf, dass der Forschungsstand zum Sehen und der Stand der Angebote für Screening und Diagnostik in Deutschland weit auseinandergehen und entwickelt, gemeinsam mit Erzieher*innen in Kindertagesstätten in Hamburg, wie das Sehen von Kindern spielerisch beobachtet werden kann. Dann holt sie ein Angebot der TU Dortmund zurück ins Ruhrgebiet. Verena Kerkmann koordiniert für mehrere Jahre das an ihrem Doktor-Lehrstuhl beheimatete Forschungsprojekt ProVisIoN. In dieser Zeit knüpft sie auch Kontakt zum Team der Entwicklungsneuropsychologischen Ambulanz von HS-Gesundheit-Professorin Dr. Nina Gawehn.

„Mit Prof. Dr. Nina Gawehn erarbeiteten wir gemeinsam neue Strategien der Detektion von Sehbeeinträchtigung bei Frühgeborenen im Vorschulalter. Sie hat früh das Potential des Themengebiets Sehens für die Beratung von Familien und Versorgung von Kindern im Kontext der Sozialpädiatrie erkannt und neue Ansätze mit entwickelt.“ Nina Gawehn holt Verena Kerkmann über das NRW-Landesprogramm Karrierewege FH-Professur schließlich an die Hochschule für Gesundheit. Die beiden bauen gemeinsam mit Prof. Dr. Dominik T. Schneider, dem Direktor der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, die deutschlandweit erste Seh-Lotsen-Sprechstunde (SLS) in der Entwicklungsneuropsychologischen Ambulanz (ENPA) im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) der Klinikum Dortmund gGmbH auf. „Die Seh-Lotsen-Sprechstunde mit ihrer Einbettung in das interprofessionelle Team des SPZ ist quasi die Brücke zwischen der Augenheilkunde und dem Alltag. Nicht alle Sehbeeinträchtigungen können bei einer augenärztlichen Untersuchung entdeckt werden. Sind die Augen gesund, fallen die Kinder und Jugendlichen häufig durch das Raster. Insbesondere bei Struktur- oder Funktionsschädigungen in den visuellen Arealen des Zentralen Nervensystems, wird es komplizierter und viele Beeinträchtigungen bleiben unentdeckt“, erklärt Verena Kerkmann. Die Seh-Lotsen-Sprechstunde stützt sich auf alltagsbezogene Sehbeobachtungen. „Wir schauen, wie das Kind das Sehen nutzt, wie es sich im Alltag verhält und ob es dort Schwierigkeiten hat. Gibt es Probleme beim Lesen? Stolpert das Kind häufig? Schaut es nicht in Gesichter, wenn mit ihm gesprochen wird? Zeigen sich Auffälligkeiten in der Orientierung oder Aufmerksamkeit? All das können Anzeichen einer bislang unentdeckten Sehbeeinträchtigung sein, trotz unauffälligen Augenarztbefund.“ Ziel der Seh-Lotsen-Sprechstunde ist es, solche unentdeckten Sehbeeinträchtigungen zu finden und die Kinder und Jugendlichen einer medizinischen Versorgung zuzuführen, ihre Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben zu erhöhen.

Für Verena Kerkmann beginnt mit der Stiftungsprofessur eine spannende, fünfjährige Forschungsreise an der HS Gesundheit. Die Professur ist in den Bezugswissenschaften im Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften angesiedelt und sieht auch Lehre in allen drei Departments der Hochschule vor. Verena Kerkmann will sich damit beschäftigen, wie die Erkenntnisse aus Forschung, Lehre und Transfer zum Themengebiet Sehbeeinträchtigung interprofessionell weiterentwickelt und sowohl in Konzepte für Aus-, Fort- und Weiterbildung für (angehende) Fachkräfte als auch in Beratungsangebote für Familien gegossen werden können. Neue Forschungsfragen, die Entwicklung eines blended-learning Weiterbildungskonzeptes und die Evaluierung des Beratungsangebotes der Seh-Lotsen-Sprechstunde – all das hat Verena Kerkmann sich vorgenommen. „Je mehr Fachpersonen Kenntnis über Phänomene, Ausprägungsformen und Unterstützungsmöglichkeiten haben, desto besser. An der HS Gesundheit möchte ich entsprechende Lehrangebote in sämtlichen Lehrgebieten zur Verfügung stellen und bereits vorhandene für Ergotherapeut*innen, Logopäd*innen und Physiotherapeut*innen weiterentwickeln. Diese und auch andere Gesundheitsfachkräfte wie Hebammen und Pflegende brauchen passgenaue Konzepte im Sinne von sehbezogenen Beratungs-, Diagnostik- und Vernetzungsstrategien.“

Prof. Dr. Verena Kerkmann: „Ich fand die Frage, wie der Körper funktioniert und vor allem, ob wir alle gleich sehen und wahrnehmen total spannend.“

Verena Kerkmann schätzt am Arbeitsplatz Hochschule die Freiheit von Forschung und Lehre, die Chance, Entwicklungs- und Innovationsmotor zu sein, Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren, für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und die drängenden Themen unserer Zeit und nächster Generationen. Sie freut sich darauf an der HS Gesundheit auch wieder ganz neue, bisher noch unbekannte Felder zu erschließen. Wenn die zweifache Mutter nicht am Campus ist, verbringt sie ihre Zeit gerne mit der Familie, Gartenarbeit oder handwerklichen Tätigkeiten. Darüber hinaus engagiert sie sich lokal in einer Gruppe zum Schutz des Klimas. Verena Kerkmann hält den Zeitpunkt der Professur, die die HS Gesundheit von der Waldtraut und Sieglinde Hildebrandt-Stiftung gestiftet bekommt, für genau richtig. „Ich nehme ein Erwachen der Gatekeeper wie Kinder- und Jugendmediziner*innen, Sozialpädiatrische Zentren, Therapeut*innen und Fachkräfte in Bildungsbereichen wahr. Das Bewusstsein, dass es Kinder mit Sehbeeinträchtigung gibt, war immer schon vorhanden“, sagt Verena Kerkmann. „Es sickert jetzt aber immer mehr durch, dass es mit gut erlernbaren Techniken und sorgfältiger Vernetzung möglich ist, die Kinder besser zu verstehen und passende Unterstützung bei Vorliegen einer Sehbeeinträchtigung anzubieten.“

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