
Drohende Pflegebedürftigkeit erkennen
Bei einer drohenden Pflegebedürftigkeit kann eine Reha-Maßnahme zu geeigneter Zeit helfen, weiterhin ein eigenständiges Leben zu führen. Deshalb suchen Prof. Dr. Christian Grüneberg (links im Bild) und Prof. Dr. Christian Thiel (rechts im Bild) aus dem Studienbereich Physiotherapie der Hochschule für Gesundheit in dem Projekt ‚Reha vor Pflege‘ nach geeigneten Tests, um Menschen zu identifizieren, die von einer frühen Rehabilitationsmaßnahme profitieren würden. Die beiden hsg-Professoren sowie der wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. Tobias Braun arbeiten für das Forschungsprojekt mit Wissenschaftler*innen der Universität Ulm sowie Prof. Dr. Kilian Rapp und Prof. Dr. Clemens Becker vom Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart zusammen. Gefördert wird das Projekt ‚Reha vor Pflege‘ von der Wilhelm-Stiftung für Rehabilitationsforschung.
Wie kam es dazu, dass Sie sich dem Thema drohende Pflegebedürftigkeit widmen?
Prof. Dr. Christian Thiel: Studien legen nahe, dass hochbetagte Menschen oft keine adäquate bewegungsbezogene Versorgung erhalten. Die Menschen sind noch selbständig, aufgrund beginnender körperlicher Einschränkungen droht aber mit der Zeit eine Pflegebedürftigkeit. Ein Grund dafür ist, dass unser Versorgungssystem in Deutschland stark ereignisbezogen ist. Das heißt, wenn jemand einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt hat, funktioniert das System ordentlich und der betreffende bekommt die nötigen Rehabilitationsmaßnahmen. Bei schleichendem Funktionsverlust oder bei langsamen Krankheitsverläufen ohne konkretes Ereignis fehlt der Versorgungsanlass. Diese Menschen erhalten nur sehr selten ein Reha-Angebot, auch wenn eine solche Maßnahme zur Erhaltung der Teilhabe beitragen würde.
Welches Ziel verfolgen Sie mit der Untersuchung?
Prof. Dr. Christian Grüneberg: Wir durchsuchen nun die wissenschaftliche Literatur systematisch nach Funktionstests, welche die drohende Pflegebedürftigkeit frühzeitig anzeigen. Schlägt so ein Test an, könnte man frühzeitig eine Reha oder ein Training zuhause implementieren, um die Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Stand der Recherche ist, dass es gute prognostische Tests gibt, die in der Literatur beschrieben werden. Wir analysieren gerade, welcher Test sich am besten für einen routinemäßigen Einsatzeignet.
Können Sie ein Beispiel für einen solchen Test nennen?
Thiel: Das sind sehr einfache motorische Tests. Vielversprechend ist zum Beispiel die Erfassung der üblichen Ganggeschwindigkeit, die aber von geschulten Untersuchern präzise und unter standardisierten Bedingungen erfasst werden sollte. Oder der Stuhl-Aufsteh-Test, er misst die Zeit für das 5malige Aufstehen von einem Stuhl.
Und wie gehen Sie dabei konkret vor?
Grüneberg: Grundsätzlich handelt es sich bei dem Projekt ‚Reha vor Pflege‘ um eine systematische Literaturstudie. Wir haben in wissenschaftlichen Datenbanken mit einer Schlagwortsuche zunächst 10.639 potenziell themenelevante Studien identifiziert. Davon haben wir nun 35 Veröffentlichungen in unsere Untersuchung aufgenommen, welche passende Teilnehmer*innen eingeschlossen haben, machbare motorische Tests einsetzten, und die Selbstständigkeit der Menschen ausreichend lange nachbeobachtet haben. Aktuell sind wir dabei, diese mit statistischen Methoden auszuwerten.
Auf welches Ziel arbeiten Sie hin?
Grüneberg: Am Ende möchten wir eine kleine ‚Testbatterie‘ mit Tests aufstellen, die man dann beispielsweise dem medizinischen Dienst der Krankenversicherer an die Hand geben kann, damit diese besser eine drohende Pflegebedürftigkeit erkennen können. Die Idee für die Zukunft ist, beispielsweise bei den Pflegebegutachtungen anzusetzen und dort die von uns vorgeschlagenen Tests zu etablieren, um die Fälle zu identifizieren, in denen eine Reha auch ohne konkretes Krankheitsereignis angeraten wäre.