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Das Bild zeigt eine ausgefüllte Netzwerkkarte

Im Kreise der Liebsten

30. September 2019

Wie viele soziale Kontakte habe ich eigentlich noch? Und ist mein Umfeld in der Lage, mich aufzufangen, falls es mir einmal nicht so gut geht? Solche Fragen werden besonders dann wichtig, wenn eine Erkrankung – wie beispielsweise eine Demenz – droht, einen Menschen sozial zu isolieren. Anne Roll, Vertretungsprofessorin im Department für Pflegewissenschaft an der Hochschule für Gesundheit (hsg Bochum), hat am Bochumer Alzheimertag 2019 gezeigt, wie man sich mit Hilfe von Netzwerkkarten die eigenen sozialen Beziehungen bewusster machen kann. Im Interview mit dem hsg-magazin erzählt Roll, wie sie auf die Arbeit mit den Karten gekommen ist und warum diese sowohl Patient*innen als auch den pflegenden Angehörigen helfen können.

Das Bild zeigt Dr. Anne Roll
Anne Roll interessiert sich für die Auswirkungen von sozialen Beziehungen auf die Gesundheit von Patient*innen. Foto: hsg-Bochum

Liebe Frau Roll, vielleicht können Sie uns erst einmal erzählen, was eine Netzwerkkarte ist und wie man sie erstellt?

Anne Roll: Netzwerkkarten sind die bildliche Darstellung eines sozialen Netzwerkes, also der sozialen Beziehungen zu anderen Personen. In der Mitte ist immer die Person abgebildet, um die es geht. Um sie/ihn herum sind die einzelnen Netzwerkmitglieder angeordnet. Zusätzlich zu der Zuordnung nach Bekanntschaftskategorien wie Familie, Freunde, bezahltem Personal oder Arbeitskollegen sollen die Befragten entscheiden, in welchem emotionalen Verhältnis sie zu diesen Personen stehen. Im inneren Kreis werden Personen platziert, denen sich die jeweilige Person sehr nahe fühlt – die also eine hohe Emotionalität für sie haben. Als solche gelten Personen, mit denen man zum Beispiel über persönliche Dinge spricht, die Umarmungen geben, Trost spenden und auf die man sich sehr freut, wenn man sie sie sieht. Im mittleren Kreis werden Personen platziert, denen sich die Befragten noch nahe fühlen, aber nicht so nahe wie denen im inneren Kreis. Im äußeren Kreis werden Personen platziert, die zum erweiterten Netzwerk gezählt werden, denen sich die Befragten aber nicht nahe fühlen.

Das Bild zeigt eine Netzwerkkarte
So könnte eine fertige Nertzwerkkarte aussehen. Grafik: Anne Roll

Wo haben Sie die Netzwerkkarten in Ihrer Arbeit bis jetzt eingesetzt?  

Roll: Ein Vorteil der Visualisierung mit Netzwerkkarten ist, dass die Kontakte, die ein Mensch hat, bildlich dargestellt werden. Ursprünglich habe ich Netzwerkkarten für meine Forschung mit Menschen mit Down-Syndrom verwendet. In dieser Forschung ging es darum, wie Menschen mit Down-Syndrom ihr eigenes Unterstützungsnetzwerk sehen und wie ihre Angehörigen das Netzwerk des Menschen mit Down-Syndrom sehen. Die Menschen mit Down-Syndrom sowie deren Angehörige hatten viel Freude daran, so eine Netzwerkkarte zu erstellen. Anschließend reflektierten die Angehörige oder die Menschen mit Down-Syndrom über ihre Beziehungen. So meinte eine Person zum Beispiel: „Ich weiß gar nicht, warum ich so wenig Freunde habe, wie kann ich das ändern?“

Und wie kam es, dass Sie die Karten nun auch bei Menschen mit Demenz eingesetzt haben?

Roll: Die Idee, Netzwerkkarten bei älteren Menschen am Bochumer Alzheimertag einzusetzen, entstand dadurch, dass die Berater in der Beratungsstelle öfter hören, dass sich pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz alleine fühlen. Sie wissen oft nicht, wen sie ansprechen können, um um Unterstützung zu bitten. Wenn man sie aber genauer fragt, hört man, dass schon Menschen für sie da sind. Hier ist es sinnvoll für die pflegenden Angehörigen, aber auch für die älteren Menschen selbst, zu überlegen, wer sich eigentlich im eigenen Netzwerk befindet und auf wen man sich verlassen kann. Daraus kann man auch Hinweise gewinnen, wie man sein soziales Netzwerk aktiver gestalten und zum Beispiel vergrößern kann. Es ist wichtig, dies bis ins hohe Alter zu tun, um Isolation und Einsamkeit zu vermeiden. Denn Einsamkeit im Alter ist kein unabwendbares Schicksal. Eine Gesellschaft muss Wege finden, um ältere Menschen mit und ohne Demenz in die Gesellschaft einzubeziehen. Netzwerkkarten können älteren Menschen und ihren Angehörigen dabei helfen, ihr Netzwerk einzuschätzen und eventuell aktiv zu werden, um es zu vergrößern oder zu verändern.

Kann man sagen, dass ein großes Netzwerk immer gleich ein besseres Netzwerk ist?

Roll: Nein, nicht die Größe des Netzwerkes ist entscheidend, sondern seine Qualität und inwieweit man sich dem Netzwerk zugehörig fühlt. Studien haben aber auch gezeigt, dass gute soziale Netzwerke einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben können. Ebenso legen Studien nahe, dass soziale Kontakte eine vorbeugende Wirkung gegen Demenz haben. Außerdem beeinflussen soziale Beziehungen das Gesundheitsverhalten eines Menschen im positiven wie im negativen Sinn.

"Nicht die Größe des Netzwerkes ist entscheidend, sondern seine Qualität"

Warum verändern sich Netzwerke im Laufe der Zeit?

Roll: Durch Alter, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit können sich Netzwerke ändern. Menschen, die krank oder pflegebedürftig sind, sind auch oftmals in der Mobilität eingeschränkt und können somit ihre Erledigungen nicht selber machen und bleiben damit immer mehr in ihrem eigenen häuslichen Umfeld. Wenn ein Mensch an einer Demenz erkrankt, kann sich außerdem die Sprache verändern, der Mensch wird langsamer, er kann nicht mehr Gesprächen folgen und/oder Gespräche führen. Der Kontakt mit anderen Menschen kann zu Stress führen, so dass die pflegenden Angehörigen immer seltener Besuch einladen. Damit kommt es dann zur Doppelisolation des Menschen mit Demenz sowie seiner Angehörigen. Gleichzeit ziehen sich Menschen aus dem Netzwerk zurück, weil sie mit der Situation der Krankheit überfordert sind. Der Versuch, den Menschen zu unterstützen kann dann mit Gefühlen wie Frustration, Angst und Hilflosigkeit einhergehen. Die Person, die erkrankt ist, oder die Angehörigen merken das und ziehen sich oft ebenfalls zurück.

Wie kann man sein eigenes soziales Netzwerk positiv beeinflussen?

Roll: Es ist wichtig, sich frühzeitig mit seinem Netzwerk auseinanderzusetzten. Nur so kann man sein Netzwerk auch verändern. Es ist wichtig, dass Menschen insbesondere niederschwellige Angebote in ihrem Umkreis kennen.  Das Weitergeben von Informationen über Netzwerkmitglieder zu entsprechenden Angeboten ist wichtig, zum Beispiel auch durch den Hausarzt, ambulante Pflege, Kirche, Nachbarschaftshilfen und andere. Menschen sollten außerdem Anlässe nutzen, um mit anderen in Kontakt kommen, wie etwa Geburtstagsfeiern. Ebenso ist ein ehrenamtliches Engagement auch eine gute Möglichkeit, um sich in bestehende Netzwerke einzubringen und neue Kontakte zu knüpfen.


Text: Das Interview führte Judith Merkelt-Jedamzik, Online-Redakteurin des hsg-magazins. Der Text erschien 30. September 2019 im hsg-magazin.

Aufmacher: Beispiel einer Netzwerkkarte, wie sie am Bochumer Alzheimertag verwendet wurden. Foto: hsg Bochum/Anne Roll

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