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Das Bild zeigt Dr. Silke Betscher, Vertretungsprofessorin für Gesundheit und Diversity an der Hochschule für Gesundheit in Bochum.
Foto: HS Gesundheit/jmj

Kreative und motivierende Wege der Evaluation

15. November 2021

Viele Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in Pflegefamilien und betreuten Wohnformen. Die Mehrheit von Ihnen muss diese Betreuung mit dem 18. Lebensjahr verlassen. Man spricht auch von Careleavern – also „jemand, der den Betreuungsstatus verlässt“. Dr. Silke Betscher ist Vertretungsprofessorin für Gesundheit und Diversity an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Für die Förderinitiative „Brückensteine Careleaver Deutschland“ der Schweizer DROSOS STIFTUNG untersucht sie gemeinsam mit anderen Projektpartner*innen die Effekte des Brückensteine-Programms auf Lebensläufe von jungen Erwachsenen und verbindet dabei Kreativität und wissenschaftlichen Anspruch.

Ihre Forschung ist in das Projekt „Brückensteine Careleaver Deutschland“ eingebettet – wie sieht dieses Programm aus?

Vertretungs-Professorin Dr. Silke Betscher: Die durch die DROSOS STIFTUNG initiierte Förderinitiative „Brückensteine Careleaver Deutschland“ steht jungen Menschen, die das Betreuungssystem verlassen, mit zahlreichen Angeboten zur Seite. Es bietet von einer Einzelberatung, bei der es auch ganz konkret um Fragen zu Transferleistungen wie Bafög, Wohngeld, Sozialhilfe usw. geht über Einzelbegleitung und Angebote in Careleaver-Centren bis hin zu einem Projekt, das Auslandsaufenthalte ermöglicht, eine große Palette an Hilfe an. Da es so umfangreich ist, möchte die DROSOS STIFTUNG eine entsprechend umfangreiche Evaluation vornehmen. Diese Evaluation wurde jetzt durch die Stiftung beauftragt und wird bis Frühjahr 2023 durch das Neukirchener Jugendhilfe Institut in Zusammenarbeit mit Prof. Dirk Nüsken von der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, und Prof. Wolfgang Böttcher von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und mir von der Hochschule für Gesundheit Bochum umgesetzt. Ende September war das Auftakttreffen mit Vertreter*innen aller beteiligten Projekte und der DROSOS-Stiftung, insbesondere deren Geschäftsführerin Suba Umathevan, um die Fragestellungen der Evaluation gemeinsam abzustimmen.

Was ist für Careleaver anders?

Betscher: Careleaver – zu Deutsch etwa „jemand, der den Betreuungsstatus verlässt“ –  sind Menschen, die oft einen großen Teil ihres Lebens in der Obhut der Kinder- und Jugendhilfe verbracht, also zum Beispiel in Wohngruppen oder Pflegefamilien gelebt haben. Der Start in ein selbständiges Leben ist deshalb oftmals nicht einfach für sie, denn es steht keine Familie hinter ihnen, die sie auffängt und moralisch oder finanziell unterstützt. Man muss sich grundsätzlich klarmachen, dass auch der letzte Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung davon ausgeht, dass das Erwachsenwerden in der Regel erst mit dem 25. Lebensjahr endet. Bis dahin sind Heranwachsende eine besonders vulnerable Gruppe. Careleaver sind aber in den meisten Fällen mit 18 Jahren raus aus dem System und auf sich allein gestellt. Da entsteht eine riesige Versorgungslücke – und das ausgerechnet bei ihnen, die ja eh aus belastenden Lebenssituationen kommen, eine belastende Kindheit hinter sich haben und selten Familien haben, die sie unterstützen. Da ist oft niemand, den sie mal eben anrufen und mit dem sie über ihre Probleme reden können. Auch andere Probleme entstehen. So müssen sie zum Beispiel für vieles (u.a. Bafög) Einkommensnachweise der Eltern vorlegen. Wenn aber seit Jahren überhaupt kein Kontakt besteht, stellt dies eine große Hürde dar. Andere Länder wie zum Beispiel England sind da schon weiter. Hier sind Careleaver von der Nachweispflicht entbunden.

"Für uns von der Hochschule für Gesundheit stellt sich die Frage, wo der Zusammenhang zwischen Empowerment, also der Stärkung von Autonomie und Eigeninitiative, und mentaler Gesundheit ist."

Was genau wird Ihr Thema bei der Evaluation sein?

Betscher: Ich werde gemeinsam mit Christine Dietze mit einer Gruppe von zwölf Careleavern dazu arbeiten, wie sich das Programm auf ihre Biografie-Verläufe ausgewirkt hat. Die Erfahrung ist, dass gerade bei jungen Menschen, die vielleicht eher wissenschaftsfern sind, klassische Erhebungsverfahren wie Interviews oder Fragebögen nicht ausreichen, um vorbewusstes Erfahrungswissen zum Ausdruck zu bringen. Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir mit Methoden arbeiten, die der Zielgruppe näher sind.

Wie genau wird das dann umgesetzt?

Betscher: Wir werden mit Medienpartnern vor Ort in der Gruppe von zwölf Careleavern, die aus ganz unterschiedlichen Projekten kommen, daran arbeiten, dass sie mit kreativen Methoden reflektieren, wie sich das Programm auf ihre eigene Biografie ausgewirkt hat. Um uns dem zu nähern, beginnen wir erst einmal mit kreativem Schreiben.

Das Bild zeigt das Projektteam.
Foto: Social Impact gGmbH
Ein Gruppenfoto vom Verbundtreffen in Berlin: Für die Förderinitiative „Brückensteine Careleaver Deutschland“ der Schweizer DROSOS STIFTUNG untersucht Dr. Silke Betscher (2.v.l., hintere Reihe) gemeinsam mit anderen Projektpartner*innen die Effekte des Brückensteine-Programms auf Lebensläufe von jungen Erwachsenen und verbindet dabei Kreativität und wissenschaftlichen Anspruch.

Und dann?

Betscher: Dann sollen Schlüsselmomente, die die Careleaver im kreativen Schreibprozessen entwickelt haben, in digitales Storytelling umgesetzt werden. Zum Beispiel könnten das kurze Filme, mit Bildern unterlegte Geschichten, aber auch Blogs oder Podcasts sein. Ziel ist, dass sie kleine Produkte erstellen und über den kreativen Prozess die Reflexion angeregt und darüber Wissen generiert wird. Später sollen diese Ergebnisse für das Gesamtprogramm nutzbar sein, damit zum Beispiel auch andere Careleaver Ideen bekommen oder motiviert und inspiriert werden, am Programm teilzunehmen.

Trotzdem ist das Kreative nur ein Teil der Evaluation. Wie wird das Programm noch ausgewertet?

Betscher: Genau, es ist nur ein kleines Moment der Gesamtevaluation. Die anderen Elemente sind in den Bereichen Onlinebefragung und der Blick in die Breite: Wo und wie wirkt das Programm? Wo und wie wirken die einzelnen Projektelemente? Mein Bereich, die Frage nach den Programm-Effekten auf Biografien, werden wir mit biografisch-narrativen Interviews kombinieren. Diese werden mit der Kerngruppe der zwölf Careleaver durchgeführt. Für uns von der Hochschule für Gesundheit stellt sich in dem Zusammenhang natürlich auch die Frage, wo der Zusammenhang zwischen Empowerment, also der Stärkung von Autonomie und Eigeninitiative, und mentaler Gesundheit ist.

Wie werden die Gruppen der Careleaver gemischt sein?

Betscher: Bei der Kerngruppe von zwölf Personen achten wir sehr auf Diversität und Heterogenität. Wir versuchen dabei möglichst alles abzudecken: Männer, Frauen, queere Personen, Migrationshintergrund, Schwarze Menschen… Das ist wichtig, denn gerade wenn es um Fragen des Empowerments geht, wirkt sich so ein Programm je nach sozialer Position unterschiedlich aus. Häufig doppelt sich die spezifische Position als Kind oder Jugendliche*r in der Jugendhilfe oder später als Careleaver mit der Mehrfachdiskriminierung aufgrund anderer Merkmale. Insofern müssen wir auch die Frage stellen, inwieweit das Programm spezifisch genug ist und ob es auch die Situation von Mehrfachdiskriminierung mitadressiert.

Wie erreichen Sie dann die größere Gruppe, wenn Sie zuerst nur mit zwölf Careleavern arbeiten?

Betscher: Diese Kerngruppe selbst wird – ein bisschen aufbauend auf dem Community-Forscher*innen-Konzept des Stadtteillabors in der Hustadt – in der Durchführung von narrativen Interviews geschult. Community meint hier die Gruppe der Careleaver. Sie werden dann also selbst Interviews mit anderen Careleavern führen und dabei durch den peer-to-peer-Kontakt einen anderen Zugang bekommen. Und gleichzeitig werden diese eigenen Interviews natürlich für sie auch wieder eine Art von Empowerment sein.

"Sie werden selbst Interviews mit anderen Careleavern führen und dabei durch den peer-to-peer-Kontakt einen anderen Zugang bekommen."

Und sie für den Weg an die Hochschule begeistern?

Betscher: Vielleicht. Denn das wiederum ist rückgebunden an einen Bereich des Programms, durch den Careleaver, die an die Hochschule wollen, spezifisch unterstützt werden. Klar, erhoffen wir uns dadurch auch, dass die aus der Kerngruppe, die an einem Studium Interesse haben, schon eine Idee davon bekommen, wie eigentlich Forschung funktioniert.

Sie selber sind Ethnologin …

Betscher: … ja, Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin. Ich komme aus dem Bereich der Diversitätsstudien und transkulturellen Studien und habe in der Vergangenheit viel in der Jugendhilfe, insbesondere im Bereich unbegleiteter Minderjähriger, geforscht. Außerdem hatte ich ein Projekt, bei dem es um Diversitätsentwicklung in der diakonischen Jugendhilfe ging. Der Fokus auf den Übergang von der Jugendhilfe in die Volljährigkeit, aber auch die Frage nach Diversität und Transkulturalität in der Jugendhilfe war immer da. Insofern freue ich mich sehr auf das neue Projekt.

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