Neue Wege in der Neurorehabilitation
Geräte- und robotergestützte Therapien, digitalisierte Erfolgskontrolle: Was vor ein paar Jahren noch wie Science Fiction geklungen hat, wird heute in der ambulanten Neurorehabilitation Realität – und bietet große Chancen. Ein Team der hsg ging der Frage nach, wie wirksam hochmoderne Methoden Menschen helfen, deren Erkrankungen bereits chronisch sind.
Einem Patienten wird vorsichtig dabei geholfen, sich von seinem Rollstuhl aus auf ein Laufband zu stellen. Auf dem Laufband wird sein Gewicht von einem Gangroboter entlastet, der auch seine Gliedmaßen stabilisiert. Die computergesteuerten Elektromotoren unterstützen jede einzelne Bewegung. Spezielle Sensoren ermitteln dabei den Krafteinsatz des Patienten. Der Gangroboter ist nur ein Beispiel dafür, wie geräte- und robotergestützte Therapien für die Spätrehabilitation von körperlichen, kognitiven und sprachlichen Beeinträchtigungen eingesetzt werden können. Das funktioniert sowohl für Patient*innen mit angeborenen neurologischen Schädigungen als auch für Erwachsene, die nach einer traumatischen Schädel-Hirn-Verletzung, einem Schlaganfall oder einer Querschnittslähmung funktionell beeinträchtigt sind.
Wege vorwärts
Wie wirksam solche Therapien für Menschen sind, die vielfach schon als austherapiert gelten, untersuchte im Rahmen der Pilotstudie „Wege vorwärts“ ein Team der hsg unter der Leitung des Neuropsychologen und Sozial-Gerontologen Prof. Dr. Sascha Sommer, Prodekan des Departments für Angewandte Gesundheitswissenschaften der hsg. Das Projekt wurde vom Landeszentrum Gesundheit NRW gefördert und in Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse, dem Therapiezentrum Ambulanticum und dem Gesundheitsnetzwerk MedEcon Ruhr e. V. umgesetzt. Das Institut für Forschung in der operativen Medizin der Universität Witten/Herdecke führte begleitend eine gesundheitsökonomische Analyse durch.
Noch nicht ausreichend: Versorgungskonzepte
„Die wissenschaftliche Studienlage zu technikgestützten ambulanten Versorgungskonzepten chronischer Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen ist noch nicht ausreichend“, erklärte Prof. Dr. Sascha Sommer. „Bei der Versorgung in der Akut- und Frühbehandlung werden neue Technologien bereits häufiger eingesetzt. Die neurologische Spätrehabilitation bleibt demgegenüber gerade im ambulanten Bereich zumeist noch auf Standardmaßnahmen beschränkt.“ Dabei gibt es vermehrt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass gerade die Kombination von konventionellen und robotikgestützten Therapiemaßnahmen auch für chronische Patient*innen geeignet sein könnten. „Die Vorteile solcher geräte- und robotikgestützter Verfahren liegen nicht nur im früheren Therapiebeginn und einem erhöhten Trainingspensum, sondern auch in einer exakten und objektiven Dokumentation des Leistungszustands und der Leistungsveränderungen“, betonte Sommer. „Im Rahmen unseres Projekts ‚Wege vorwärts’ galt es zu prüfen, ob dieses kombinierte Behandlungskonzept die Mobilität und auch kognitiv-sprachliche Leistungen, die Selbstständigkeit und die allgemeine Lebensqualität von neurologischen Patient*innen mit bereits chronischen Beeinträchtigungen verbessern kann.“
„Das Therapieverfahren konnte sogar bei Menschen, deren Krankheitsbeginn bereits Jahre zurück lag, noch zur Verbesserung von Lebensqualität führen.“
Prof. Dr. Sascha Sommer
Die Studie wurde als nicht-experimentelle Begleitstudie mit Beobachtung der Veränderungen von Funktion und Leistungsfähigkeit in einer Interventionsgruppe und einer Kontrollgruppe durchgeführt. Das bedeutet: Die Proband*innen der Kontrollgruppe wurden zum Vergleich mit ambulanten Standardmaßnahmen der Regelversorgung behandelt. Motorische und sprachlich-kognitive Leistungen, Selbstständigkeit und Lebensqualität wurden durch Fragebogen, Funktionstests und gerätegestützte Assessments erhoben. Das Ergebnis: Eine hochdosierte Kombination konventioneller und technikgestützter Therapieverfahren konnte sogar bei Menschen, deren Krankheitsbeginn bereits Jahre zurück lag, noch zur Verbesserung von Mobilität, Selbständigkeit und Lebensqualität führen. Im Vergleich zeigt die Kontrollgruppe, dass die ambulante Standardversorgung das Funktions- und Leistungsniveau in der Regel bestenfalls erhalten kann. Prof. Sommer: „Das kombinierte, technikgestützte Konzept war demnach der Regelversorgung überlegen. Darüber hinaus ist es vor diesem Hintergrund geboten, Patienten mit chronifizierten Funktionseinschränkungen aufgrund neurologischer Grunderkrankungen nicht mehr grundsätzlich als ‚austherapiert’ zu betrachten, da auch bei Ihnen noch signifikante Therapiefortschritte nachzuweisen sind.“
Das Wissenschaftlerteam der hsg der Pilotstudie „Wege vorwärts“
Prof. Dr. Sascha Sommer (Leitung), Professor im hsg-Studienbereich Logopädie mit dem Schwerpunkt: Kognitive Neuropsychologie, sowie die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen im Studienbereich Logopädie Dr. Hendrike Frieg und Dr. Tobias Kalisch sowie Dorothee Hinsen, die zudem als wissenschaftliche Hilfskraft im Institut für Angewandte Gesundheitsforschung der hsg arbeitet. Das Team wird unterstützt durch den Studienbereich Physiotherapie, namentlich von Prof. Dr. Christian Thiel.
Lektorat: Tanja Breukelchen, freie Journalistin
Aufmacher: LZG.NRW