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Katja Ehrenbrusthoff. Foto: hsg

Schmerzen richtig messen

8. März 2019

Katja Ehrenbrusthoff, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienbereich Physiotherapie der Hochschule für Gesundheit (hsg Bochum), forscht über sensomotorische Dysfunktion bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen. Betreut wird sie in diesem kooperativen Promotionsprojekt von Dr. Cormac Ryan und Prof. Denis Martin von der Teesside University, Middlesbrough (GB), und von Seiten der hsg Bochum von Prof. Dr. Christian Grüneberg. Im Interview erklärt die promovierende Physiotherapeutin, womit genau sie sich wissenschaftlich beschäftigt und welche Ergebnisse bereits festgehalten werden können.

Übersetzt heißt sensomotorische Dysfunktion, dass Sie über Rückenschmerzen forschen, deren Ursachen darin liegen könnten, dass sensorische Informationen aus dem Körper, wie zum Beispiel Tastempfinden oder die Position des Körpers im Raum, nicht mehr adäquat mit einer motorischen Reaktion, wie zum Beispiel der Anspannung bestimmter Muskelgruppen oder einer komplexen Bewegung, verknüpft werden. Warum ist die Forschung im Bereich der sensomotorischen Dysfunktion gerade so aktuell?

Katja Ehrenbrusthoff: Die Forschung im Bereich von Veränderungen im Zentralnervensystem bei Menschen mit chronischen Schmerzen hat sich immer mehr zu einem großen Forschungsgebiet entwickelt, weil auch die technischen Messmethoden immer besser geworden sind. Es gibt zum Beispiel die funktionelle Kernspintomographie (fMRT), mit der – einfach erklärt – Aktivitäten im Gehirn über eine Messung des regionalen Blutflusses dargestellt werden können. Und je mehr sich die Technik verbessert, umso mehr sind wir in der Lage, dem Gehirn sozusagen real beim Arbeiten zuzugucken. Inwiefern das, was man dann zum Beispiel im fMRT sieht, dann auch klinisch relevant ist, das ist noch eine andere Frage. Aber viele Forscher*innen sind aktuell einfach daran interessiert zu klären, was eher da war: Sind die Veränderungen im Gehirn eine Folge des chronischen Schmerzes oder ist ein chronischer Schmerz für Veränderungen im Gehirn verantwortlich?

Im nächsten Schritt ist es dann wichtig, dass man Instrumente hat, die es nicht erfordern, einen Kernspin zu haben. Denn das ist ein teures Gerät, also auch eine teure Untersuchung, für die man dann auch noch versierte Techniker*innen braucht. Wenn es also Dinge gibt, die stellvertretend für diese sehr aufwendigen technischen Maßnahmen klinisch eine Einschätzung dafür geben könnten, was sich im Gehirn verändert, wäre das für uns Kliniker*innen ein Segen. Daran arbeiten wir.

Katja Ehrenbrusthoff
Katja Ehrenbrusthoff bezieht in ihrer Forschung den Bereich der Veränderungen im Zentralnervensystem bei Menschen mit chronischen Schmerzen mit ein. Foto: hsg-Bochum

Welche Ergebnisse lassen sich denn schon festhalten?

Ehrenbrusthoff: Die Zweipunkt-Diskrimination, der sogenannte Seitigkeitstest und eine Testbatterie aus sechs Bewegungskontroll-Tests haben eine moderate Evidenz (wissenschaftliche Belegbarkeit – Anmerk. d. Red.) dafür, dass sie zwischen gesunden Menschen und Menschen mit chronischen Rückenschmerzen unterscheiden können. Wir haben aber noch unzureichende Evidenz dafür, wie verlässlich sie sind und ob und wie sie miteinander übereinstimmen. Es kann sein, dass sie nicht konvergent sind. Das heißt, dass wir noch nicht wissen, ob ein schlechtes Ergebnis bei den Bewegungskontroll-Tests auch ein schlechtes Ergebnis bei Seitigkeitstest bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen impliziert, also einschließt. Hätte man hier fundierte wissenschaftliche Belege zum Verhältnis der Tests untereinander, könnte man dies nutzen, um daraus in einem nächsten Schritt individuelle Therapien abzuleiten. Zum Beispiel könnte die Bewegungskontrolle bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen dadurch verbessert werden, dass man unter anderem ein Seitigkeitstraining einsetzt, was mittels eines Computerprogrammes durchgeführt wird und viel weniger körperliche Aktivität erforderte. Somit könnte es für Menschen geeignet sein, die sich derzeit aufgrund von Schmerzen nicht so gut bewegen können oder sogar Angst vor Bewegung haben. Aber dies kann zum jetzigen Zeitpunkt nur vermutet werden und muss weiter solide wissenschaftlich untersucht werden.

Messen mit der Schieblehre. Foto: hsg Bochum
Foto: hsg-Bochum. Zwei Berührungsreize werden am Rücken ausgelöst. Liegen die beiden Berührungsreize eng beieinander, werden sie nicht mehr als zwei Reize gefühlt, sondern als ein Reiz. Welcher Abstand wird noch als zweiter Reiz wahrgenommen? Dies wird mit einer Schieblehre gemessen.

Würden Sie bitte beispielhaft einen dieser Tests erklären?

Ehrenbrusthoff: Eine Zweipunkt-Diskrimination ist zum Beispiel die Fähigkeit, auf der Haut zwei taktile Reize, also Berührungsreize, räumlich voneinander unterscheiden zu können. Das wird zum Beispiel am Rücken mit einer Schieblehre gemessen. Je näher die beiden Reize zusammen sind, desto schwieriger ist es, die beiden als zwei räumlich getrennte zu erkennen. Gesunde können noch bis zu einem Abstand von vier Zentimetern zwei Punkte wahrnehmen, Menschen mit chronischen Rückenschmerzen liegen bei ungefähr sechs Zentimetern.

Was gilt es noch herauszufinden?

Ehrenbrusthoff: Wo wir auf jeden Fall noch unzureichende Evidenz haben, ist die Reliabilität, also die Zuverlässigkeit eines wissenschaftlichen Testinstrumentes, und die Übereinstimmungs-validität dieser Instrumente. Die Übereinstimmungsvalidität gibt an, inwieweit die Testergebnisse mit anderen Tests, die Gleiches oder Ähnliches messen, übereinstimmt. In diesem Bereich muss mehr Forschung stattfinden, bevor wir die Messinstrumente nutzen können, um Therapien auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen, oder sie in der Klinik anwenden zu können. Die Frage, die wir noch klären müssen, ist also: Können wir mit den Instrumenten wirklich verlässlich in Klinik und Forschung untersuchen, in welchem Ausmaß bei einem Menschen mit chronischen Rückenschmerzen eine sensomotorische Dysfunktion vorliegt?


Das Interview führte Dr. Anna Knaup im September 2018 als Online-Redakteurin des hsg-magazins. Das Interview ist am 09.03.2019 im hsg-magazin erschienen.

Aufmacher: hsg Bochum

Diese App unterstützt den physiotherapeutischen Prozess. Foto: hsg/Volker Wiciok
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