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Foto: HS Gesundheit/Jürgen Nobel

Studierende entwickeln Ethik-Kompass

24. März 2022

Eine Hilfe für die Arbeitspraxis: Studierende des Studiengangs Gesundheitsdaten und Digitalisierung der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum haben gemeinsam mit dem Pflegewissenschaftler und Lehrbeauftragten Stefan Juchems einen Ethik-Kompass entwickelt. Er soll den Studierenden bei ihrer künftigen Beurteilung ethischer Auswirkungen im Zuge der Datenbereitstellung, -erhebung sowie -auswertung und auch im Umgang mit digitalen Innovationen eine Stütze sein.

Das Bild zeigt ein Portrait von Stefan Juchems.
Foto: Alexander Basta
Stefan Juchems ist Pflegewissenschaftler und Lehrbeauftragter an der HS Gesundheit.

Was verbirgt sich genau hinter dem Ethik-Kompass?

Stefan Juchems: Der von den Studierenden entwickelte Ethik-Kompass ist kein Verhaltenskodex, sondern mehr eine Orientierungshilfe. Die Studierenden werden in ihrem beruflichen Alltag immer wieder mit ethischen Entscheidungen in Berührung kommen, sei es im Umgang mit sensiblen personenbezogenen Massendaten, die ihnen zur Verfügung gestellt werden oder durch neue Technologien, die massenhaft Daten bereitstellen können. Medizinischer Fortschritt beruht auf beidem. Die Frage ist: Wie lässt es sich verantwortbar in der Praxis damit umgehen? Welche Werte lege ich mir bei meiner Tätigkeit im Gesundheitssystem, insbesondere im Umgang mit sensiblen Daten oder neuen Technologien zugrunde? Nicht selten werden die Studierenden sich zum Beispiel einem großen Auswurf an Daten gegenübersehen, die sie in eine bestimmte Richtung auswerten sollen. Bei der Entscheidung kann der Kompass einen Hinweis geben, da einer der Werte lautet: „…nutze die Daten nur zu dem Zweck, zu dem sie mir von dieser Person anvertraut wurden.“ Durch die Abwägung dieses Wertes mit anderen möglichen Werten wird aus der Entscheidung eine ethisch reflektierte Entscheidung, für die man dann auch die moralische Verantwortung übernehmen kann.

Ein anderes Beispiel: Eine Handprothese, die allein durch Gedanken steuerbar ist. Wenn Informationen aus dem Gehirn in die Prothese gelangen können, gibt es dann auch einen umgekehrten Weg und was bedeutet dieser? Dass wir ein Gehirn neu programmieren können? Und ist das eine Gefahr oder kann das auch eine Hilfe sein, zum Beispiel bei Demenz? Technologien als solche sind werteneutral, erst ihre Anwendung birgt Chancen oder Risiken, entscheidend ist dabei die Frage, an welche Werte wir uns bei der Anwendung orientieren.

Ziel der Entwicklung des Ethik-Kompasses war es, dass die Studierenden ein Gefühl dafür bekommen, welche Unterstützung Daten und Technologien sein können, welchen Preis sie im Gegenzug aber auch bedeuten können. Genau solche Fälle haben wir thematisiert, und zwar anhand von vier Werten, die wir aus den Prinzipien der Medizinethik abgeleitet haben: Fürsorge, Autonomie, Gerechtigkeit und nicht schaden. Diese Werte bilden die Windrose unseres Kompasses und von dort aus haben wir uns anhand vieler weiterer Beispiele fortbewegt und gemeinsam neun Punkte entwickelt, die zur Entscheidungsfindung bei ethischen Fragestellungen helfen sollen. Für mich gibt es nicht die Ethik, sondern es gibt ethische Werte, die je nach Situation ein anderes Ranking bekommen und eine andere ethische Entscheidung begründen können. Aktuelles Beispiel sind die Diskussionen um die Impfpflicht oder Quarantäneregeln. Bei den Diskussionen geht es um die Werte Schutz vor Schaden und Fürsorge, aber auch um Autonomie und das Abwägen, welchem Wert bei der Entscheidung mehr Gewicht zugeteilt werden sollte. Gilt der Aspekt der Fürsorge nun mehr als der Aspekt der Autonomie? Allein dieser Fall macht deutlich, dass die vier ethischen Werte miteinander konkurrieren.

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Klingt nach diskussionsfreudigen Vorlesungen?

Stefan Juchems: Das waren sie tatsächlich. Es ging in den Vorlesungen nicht zuvorderst um Faktenwissen. Sicherlich habe ich mit den Studierenden große Philosophen herangezogen, aber in erster Linie haben wir praktische Beispiele diskutiert. Das dabei eine lebendige Diskussion entfachte, war auch unsere Absicht, weil die Studierenden so lernen, über ethische Fragen in eine Wertediskussion zu kommen. Stellen wir uns folgendes vor: Patient*innen bekommen von einem Arzt ein Diätprogramm verordnet. Beim Lebensmitteleinkauf erkennt ihre digitale Armbanduhr, welche Lebensmittel nicht der verordneten Diät entsprechen und die Patient*innen können diese Produkte nicht kaufen. Was bedeutet eine solche Technologie neben der Datengewinnung? Und was heißt es eigentlich eine Entscheidung rein datenbasiert zu treffen? Daten sind für die Forschung, für den Fortschritt unverzichtbar, aber sie sind auch eine Quelle, die werte- und zielorientiert zu nutzen ist und bei der man sich fragen sollte: Wem nutzt die Datenauswertung? Mir? Der Gesellschaft? Nur der Person im Einzelnen? Wofür habe ich die Daten bekommen? Was war der Auftrag meines Arbeitgebers und was der des Datenspenders? Passt beides zusammen? Über diese Fragen haben wir viel diskutiert. Dabei war es auch für einige Studierende nicht ganz einfach, auszuhalten, dass es ein eindeutiges „Richtig“ nicht gibt, sondern immer auch der Kontext betrachtet werden muss.

Für wie wichtig halten Sie eine frühe Auseinandersetzung mit dem Thema Ethik auch bereits während des Studiums?

Stefan Juchems: In einem Studium wird die Basis für späteres Handeln gelegt. Wenn die Studierenden in ihrer künftigen Tätigkeit über eine ethische Fragestellung entscheiden müssen, dann haben sie nicht die Möglichkeit, keine Entscheidung zu treffen. Im Gegenteil – sie müssen sich für oder gegen ein Handeln entscheiden. Daher halte ich es für sehr wichtig, dass die Studierenden bereits in ihrer Zeit an der Hochschule eine Wertevorstellung, also ein Bewusstsein für Werte entwickeln, woran sie ihr künftiges Handeln im Gesundheitssystem immer wieder kritisch messen können. Dass sie lernen, sich bewusst zu machen, was ihr Handeln auch bedeuten kann. Solche Lernprozesse müssen einen Zeitraum füllen und reifen, um für sich selbst abzutasten: Wo stehe ich? Welche Entscheidung und welche Verantwortung liegt in meiner Hand? Als kleine Erinnerung daran, haben wir den Ethik-Kompass als Postkarte gestaltet und den Studierenden am Semesterende mit auf den Weg gegeben. So können sie ihn künftig immer in ihrer Kitteltasche dabeihaben – als Werkzeug der kritischen Selbstreflexion, wohlwissend, dass solch ein Ethik-Kompass nie abgeschlossen ist, sondern sich auch weiterentwickeln kann und darf.

Zu sehen ist Constantin Bahne.
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