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Ein Portraitbild von Prof. Dr. Christiane Falge.
Foto: HS Gesundheit/jmj

„Wir müssen Diversität als Teil unserer Gesellschaft ansehen.“

31. Mai 2022

Insgesamt 3 ½ Jahre hat sich ein Forschungsteam der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum gemeinsam mit dem in der Bochumer Hustadt ansässigen Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit (IFAK e. V.) und mit Unterstützung weiterer Partner*innen dem Projekt QUERgesund gewidmet. Im Fokus des Projektes stand die Entwicklung diversitätssensibler Angebote zur Gesundheitsförderung im Bochumer Stadtteil Hustadt. Prof. Dr. Christiane Falge, Professorin für Gesundheit und Diversity an der HS Gesundheit sowie Gründerin des Hustadt-Stadtteillabors, das von der Hochschule zur partizipativen Gesundheitsforschung vor Ort genutzt wird, begleitete das Stadtteilprojekt – neben Prof. Dr. habil. Heike Köckler, Professorin für Sozialraum und Gesundheit an der HS Gesundheit – wissenschaftlich und erzählt im Interview, was QUERgesund erreichen konnte.

Welche Rolle spielt der Diversitätsaspekt heutzutage im Gesundheitssystem?

Prof. Dr. Christiane Falge: Auf jeden Fall eine zu kleine. Ich würde sogar sagen, dass er eine Lücke im Gesundheitssystem ist. Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Unser Gesundheitssystem aber noch nicht vielfältig genug. Der Großteil der Strukturen des Gesundheitssystems basiert auf der Hypothese, dass die Individuen über genügend Gesundheitskompetenz verfügen. Es basiert auf der Annahme, dass der Mensch für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist. Nehmen wir das Beispiel kulturell diverser Communities, wie die Gruppe der Bewohner*innen der Bochumer Hustadt eine ist. Dort hat das Projekt QUERgesund, an dem das Hustadt-Stadtteillabor der HS Gesundheit beteiligt ist, gezeigt, dass soziale Einflussfaktoren einen großen Anteil am gesundheitlichen Präventionsverhalten der Menschen haben. Das individuelle Verhalten macht nur etwa ein Drittel aus. Unser Gesundheitssystem fokussiert sich aber stark auf das individuelle Verhalten, weniger auf die sozialen Einflussfaktoren. Was wir brauchen sind gerechte Zugänge zu Arbeit, Gesundheit und Bildung für vielfältige Gruppen. Wir müssen nachhaltige Strukturen entwickeln, damit Gesundheit auch in diversitätssensiblen Bereichen verortet werden kann. Wir müssen Diversität als Teil unserer Gesellschaft ansehen und nicht als defizitäres Randphänomen.

Sie sprachen die Hustadt an: Was ist sie für ein Stadtteil?

Prof. Dr. Christiane Falge: Die Hustadt ist nicht nur einer der jüngsten, sondern auch einer der kulturell diversesten Stadtteile Bochums. Über 90 Prozent der Bewohner*innen haben eine Migrationsgeschichte. Dort leben kinderreiche Familien und auch wenn die Familien sich selbst nicht als arm bezeichnen würden, so gehören sie Statistiken zufolge doch zu jenen, die wir aus wissenschaftlicher Perspektive als von Armut betroffen einstufen. Der präventive Gesundheitsgedanke war dort vor Projektstart kein Thema, das haben die Ergebnisse einer Datenerhebung unseres Stadtteillabors, mit dem wir Langzeitforschungen in dem Stadtteil vornehmen, bestätigt: Die Bewohner*innen haben vor dem QUERgesund-Projekt wenig bis gar nicht an präventiven Gesundheitsangeboten teilgenommen. Zum einen, weil es nur wenig wohnortnahe Gesundheitsangebote gab, die wenigen Angebote kaum bekannt waren und fehlendes Wissen über Subventionsmöglichkeiten bestand. Zum anderen, weil die Männer viel arbeiten, meist körperlich fordernde Jobs und nur wenig Zeit haben. Und die kulturell zugeschriebene Rolle der Frau vielfach eine häusliche ist, die sich um die Betreuung der Kinder kümmert. Als wir mit dem Projekt starteten, sagte ein Bewohner der Hustadt zu mir: ‚Das kannst du vergessen, unsere Frauen machen keinen Sport.‘ Doch der Mann wurde mit Fortschritt des Projektes eines Besseren belehrt.

Wenn wir gut 3 ½ Jahre zurückblicken: Mit welcher Idee ist das Projekt QUERgesund in der Hustadt gestartet?

Prof. Dr. Christiane Falge: Den Diversitätsaspekt in die Gesundheitsforschung aufzunehmen und einen Beitrag zur Chancengleichheit beim Zugang zu Gesundheit beziehungsweise Prävention zu leisten. Unser aller Ziel war es, kultursensible, niedrigschwellige Strukturen sowie Angebote zur Gesundheitsförderung in der Hustadt zu entwickeln und zu etablieren, um auf diese Weise die Gesundheitskompetenz der Bewohner*innen zu erhöhen und sie in die Lage zu versetzen, motiviert und selbstbestimmt für sich und ihre Gesundheit etwas zu tun.

Wie viele Gesundheitsangebote wurden im Projektverlauf auf die Beine gestellt?

Prof. Dr. Christiane Falge: Das Team von QUERgesund hat insgesamt 12 Angebote entwickelt. Projekte, die sich gut etabliert haben, sind zum Beispiel „FiBO“, ein Angebot, bei dem weibliche Jugendliche Schattenboxen erlernen und das nicht nur ein Bewegungs- und Fitnessangebot ist, sondern auch Raum für Emanzipation bietet, oder auch das „Interkulturelle Gärtnern“. In dem Kurs bauen Frauen selber Gemüse an und erfahren etwas über die schonende Verarbeitung von regionalen Nahrungsmitteln, und es wird gemeinsam gekocht. Ein besonders erfolgreiches Angebot ist auch die digitale Yogastunde für Frauen, an der ich auch selbst schon teilgenommen habe. Yoga war in der Hustadt zuvor noch nicht angekommen. Wir haben als Hochschule iPads zu Verfügung gestellt, damit die Bewohnerinnen von Zuhause aus an dem Angebot teilnehmen konnten. Für die männlichen Jugendlichen haben wir zum Beispiel das Angebot „Eat cool – Be cool“ entwickelt. Es klärt zum einen über gesunde Ernährung auf, bietet zum anderen aber auch auf Ausdauer und Bewegung ausgerichtete Fitnesseinheiten. Andere Angebote haben wir im Projektzeitraum zumindest mit anstoßen können, so zum Beispiel den Gedanken der Errichtung einer kleinen Gesundheitsbibliothek vor Ort.

Prof. Dr. Christiane Falge: „Wir müssen nachhaltige Strukturen entwickeln, damit Gesundheit auch in diversitätssensiblen Bereichen verortet werden kann.“

Einen wesentlichen Teil zum Projekterfolg haben Stadtteilforscher*innen beigetragen? Welche Rolle kam ihnen bei QUERgesund zu?

Prof. Dr. Christiane Falge: Der Gedanke unseres Stadtteillabors ist es, auf Augenhöhe, mit und vor allem auch für die Community, die Bewohner*innen der Hustadt, zu forschen. Als wir das Projekt starteten, war schnell klar, dass es nur Erfolg haben wird, wenn wir die Bewohner*innen mitnehmen, wenn sie ein Teil des Forschungsteams werden. Denn die Bewohner*innen hatten Sorge, dass sie nur Forschungszwecken dienen. Dass wir Wissen extrahieren, sich für sie vor Ort durch unsere Forschungen aber rein gar nichts positiv verändern wird. Unsere Forschungen beim Projekt QUERgesund mussten also praxisorientiert und einen direkten Nutzen für die Bewohner*innen vor Ort generieren. Daher wählten wir einen kollaborativen Forschungsansatz, das heißt einen, bei dem Hochschul-Wissen mit Community-Wissen und Praxis-Wissen verknüpft und daraus neues Wissen generiert wird. Die Stadtteilforscher*innen sind ein wichtiger Teil dieses Projektansatzes. Stadtteilforscher*innen sind ausgewählte Bewohner*innen der Hustadt oder näherer Umgebung. Sie brachten spezifisches Wissen über die Community in das Projekt mit ein und ermöglichten einen Zugang zu der mehrsprachigen Community und den Aufbau von Vertrauen in das Stadtteilprojekt. Für ihre Aufgabe wurden sie von Wissenschaftler*innen der HS Gesundheit in Bezug auf Gesundheitswissen und qualitative Forschungsmethoden gezielt geschult.

Mit welchem Ziel?

Prof. Dr. Christiane Falge: Gemeinsam mit Gesundheitsexpert*innen aus dem Gesundheitsamt, dem Landeszentrum Gesundheit, der Hochschule und mit Studierenden der HS Gesundheit haben sie einen wissenschaftlichen Leitfaden entwickelt, der Einblick in das Präventionsverhalten der Menschen in der Hustadt geben sollte. Die Stadtteilforscher*innen haben ihr wertvolles Community-Wissen mit in den Leitfaden eingebracht. Der Leitfaden stellte den Bewohner*innen Fragen zu zuvor vom Forschungsteam definierten Handlungsfeldern wie Prävention, Stress, Sucht, Bewegung oder Ernährung. Die Stadtteilforscher*innen brachten einen weiteren Punkt ein – Diskriminierung. Zu Recht, denn in den Forschungsergebnissen zeigte sich deutlich, dass Diskriminierung und die eigene Gesundheit, das eigene Wohlbefinden aufeinander einwirken. Eine andere Frage von uns war zum Beispiel: „Leiden Sie oder ein Familienmitglied an Depressionen? Nehmen Sie eine Beratung in Anspruch?“ Die Stadtteilforscher*innen haben sofort angemerkt, dass die Frage viel zu direkt und das Thema Depressionen ein Tabuthema in vielen Kulturen sei. Sie haben die Frage umgestellt: „Haben Sie von der Krankheit gehört? Wissen Sie, was Depressionen sind? Haben Sie von jemandem gehört, der darunter leidet?“ Sie haben darauf geachtet, dass unsere Fragen nicht so kontrollierend wirken und nicht zu lang sind.

Mit dem Leitfaden haben die Stadtteilforscher*innen und die Studierenden dann als Tandems Bewohner*innen der Hustadt interviewt. Die Interviews bildeten die Grundlage für unsere Bestands- und Bedarfsanalyse, die das Fundament für die Entwicklung neuer Gesundheitsangebote in und für die Hustadt war. Die Forschung vor Ort wurde quasi von den Stadtteilforscher*innen im Tandem mit den Studierenden durchgeführt. Nur an einer Stelle haben wir unseren kollaborativen Ansatz verlassen, zur computerbasierten Analyse der Ergebnisse. Die Ergebnisse haben sich die Community, die Praxispartner*innen vor Ort und die Hochschule im Anschluss gemeinsam angeschaut und gemeinsam haben wir in Workshops die Angebote zur Gesundheitsförderung in der Hustadt konzipiert. Gerade die Praxispartner*innen wollten wir unbedingt mit an Bord haben, weil sie seit Jahren Teil des Stadtteils sind und neben den Stadtteilforscher*innen wichtige Impulse geben können. Ohne die IFAK e.V., mit der wir das Projekt umsetzten und die mit ihrem Wissen beim Zugang zur Community unterstützt, wäre QUERgesund niemals so erfolgreich gewesen. Aber auch das Wissen weiterer Akteure wie der Stadt Bochum oder dem Landeszentrum Gesundheit, mit denen wir das Projekt in einem interprofessionellen Komitee steuerten, gehören zu den Gelingensbedingungen von QUERgesund.

Ein Angebot, dass Ihnen besonders am Herzen lag, ist eine gemeinsame Impfaktion.

Prof. Dr. Christiane Falge: Ja, mitten in der Praxisphase breitete sich plötzlich die Corona-Pandemie aus, die besonders marginalisierte Gruppen trifft. Die Infektionsrate in der Hustadt stieg, die Impfbereitschaft war zögerlich. Die Stadtteilforscher*innen berichteten uns, dass die Bewohner*innen kaum an Informationen über Impfungen herankamen, es in der Hustadt kein Impfangebot gab und eine Fahrt in einen Nachbarort für Menschen im Rollstuhl oder ältere Bewohner*innen kaum zumutbar sei. Wir haben dann an der HS Gesundheit eine Schulung für die Stadtteilforscher*innen angeboten, in der ihnen Mediziner*innen wissenschaftliches Impfwissen vermittelt haben. Dieses Wissen nahmen die Stadtteilforscher*innen mit in die Hustadt und sensibilisierten im öffentlichen Raum oder an Haustüren fürs Impfen. Darüber hinaus organisierten wir mit Praxispartner*innen mobile Corona-Impfaktionen vor Ort, um den Stadtteil zu erreichen. Die Impfaktionen waren ein großer Erfolg. Auch im Zusammenhang mit der zu erwartenden Corona-Welle im kommenden Herbst stehen die Stadtteilforscher*innen für weitere Interventionen bereit.

Prof. Dr. Christiane Falge, Professorin für Gesundheit und Diversity: „Das zeigt, welches Empowerment wir alle mit dem QUERgesund-Projekt geleistet haben.“

Welche Bilanz ziehen Sie nach Ablauf der Projektphase?

Prof. Dr. Christiane Falge: Dass kollaborative Wissensproduktion, das heißt die Einbindung von Community-Wissen, ein Weg ist, Menschen zu erreichen, die als schwer erreichbar gelten und dass das Dreieck Hochschule-Praxis-Community dabei eine ganz wichtige Rolle spielt. Beim kollaborativen Ansatz waren die Stadtteilforscher*innen mit Enthusiasmus dabei und sind selbst wissenshungrig geworden. Sie möchten sich noch mehr Gesundheitswissen aneignen und auch weitergeben. Das zeigt, welches Empowerment wir alle mit dem QUERgesund-Projekt geleistet haben. Es zeigt, dass wir mit und im Projekt den richtigen Weg gegangen sind und ich freue mich, dass das Stadtteillabor weiter in der Hustadt bleiben wird, dass wir dort weiter forschen werden. Im Laufe des Projektes hat sich die eine oder andere Stadt bei mir erkundigt, wie wir vorgegangen sind, wie wir diese Ziele erreicht haben, man wolle auch gerne ein Stadtteillabor gründen und in Witten, finanziert durch die Caritas, setzen wir aktuell bereits den Transfer des Stadtteilforscher*innen-Ansatzes um. Dieses kleine Pilotprojekt kann ein sehr gutes Beispiel für die Übertragung auf das große Gesundheitssystem sein, um auf diese Weise Gesundheit endlich neu zu denken.

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