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Foto: HS Gesundheit/Volker Wiciok (Collage)

Studierende geben Impulse zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf

15. Juni 2022

Die Pflege von Angehörigen ist nicht selten ein Fulltime-Job. Hinzu kommt, dass pflegende Angehörige vielfach selbst mitten im Berufsleben stehen. Die Kampagne „arbeiten, pflegen, leben“ des Ennepe-Ruhr-Kreises soll die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf stärker auf die Agenda von Unternehmen setzen. Studierende des Masterstudiengangs „Gesundheit und Diversity in der Arbeit“ der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum unterstützen Unternehmen dabei. Prof. Dr. Tanja Segmüller, Professorin für Alterswissenschaften an der HS Gesundheit und Christa Beermann, Demografiebeauftragte des Ennepe-Ruhr-Kreises sowie Leiterin der Kampagne, berichten im Interview über den Mehrwert der Kooperation für Unternehmen, Studierende und nicht zuletzt pflegende Angehörige.

Was sagen aktuelle Statistiken zur Pflegebedürftigkeit?

Christa Beermann: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr Menschen – alte, hochaltrige, aber durchaus auch junge Menschen mit Handicap oder chronischer Erkrankung – die Unterstützung und Pflege benötigen. Zugleich gibt es immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter, die Unterstützung leisten können. Diese sogenannte Care-Arbeit wird zu circa 70 Prozent von Frauen geleistet, die dafür oft ihre Arbeitszeit reduzieren oder ganz aus dem Job aussteigen – und sich im Übrigen nicht selten auch noch um Kinder kümmern.

Prof. Dr. Tanja Segmüller: Die Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf hat unsere Gesellschaft heutzutage „auf dem Schirm“. Aber die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – hier sind wir noch auf einem langen Weg. Die Pflegetätigkeit findet heute zu 70 Prozent in den eigenen vier Wänden statt, dort werden hierzulande die meisten Menschen gepflegt. Der größte Pflegedienst unserer Nation ist die Gruppe der pflegenden Angehörigen und genau diese Gruppe wird heute noch viel zu wenig mitgedacht – auch im beruflichen Kontext.

Ein Portraitbild von Prof. Dr. Tanja Segmüller.
Foto: HS Gesundheit
Prof. Dr. Tanja Segmüller, Professorin für Alterswissenschaften an der HS Gesundheit.

Was bedeutet es einen Angehörigen zu pflegen?

Prof. Dr. Tanja Segmüller: Es bedeutet die Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen zu übernehmen. Einen Angehörigen zu pflegen, ist ein „Rund-um-die-Uhr-Job“ und das neben dem eigenen Leben, dem eigenen Beruf, der eigenen Familie. Körperlich wie psychisch ist das ein enormer Kraftakt. Wir sehen in unseren Forschungen regelmäßig, dass die Gruppe der pflegenden Angehörigen häufig weniger gesund ist als die durchschnittliche Bevölkerung, weil sie in einem Hamsterrad stecken und das über eine durchschnittliche Pflegezeit von acht Jahren. Viele pflegende Angehörige denken, dass sie diese Zeit alleine schaffen müssen, sie schämen sich, das Thema anzusprechen, gerade auf der Arbeit. Dabei ist es nicht alleine zu leisten. Pflegende Angehörige benötigen Unterstützung, auch aus der Arbeitswelt.

Warum raten Sie Unternehmen das Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auf die eigene Agenda zu nehmen und was können sie konkret tun?

Christa Beermann: Weil sie einen Gewinn im Unternehmen davon haben. Unternehmen, die ihre Mitarbeiter*innen bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf unterstützen, schaffen ihnen wichtige Freiräume, die es den Mitarbeiter*innen ermöglichen, sich wieder mehr auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Die Motivation steigt und damit steigt auch die Produktivität der Mitarbeiter*innen. Zudem sinken Arbeitsunfähigkeiten und ganz oder teilweise Ausstiege aus dem Job, die Fluktuation nimmt ab, das heißt, das Unternehmen verliert kein wertvolles Knowhow. Lösungen zur Vereinbarkeit anzubieten ist oft kostengünstiger und leichter organisatorisch umzusetzen als Unternehmen befürchten. Eine effektive Möglichkeit das Thema der Vereinbarkeit im Unternehmen zu verankern, können flexible Arbeitszeit- und Organisationsmodelle sein wie zum Beispiel Teilzeitlösungen, die Aufhebung der Kernarbeitszeit oder mobiles Arbeiten. Die Benennung einer Ansprechperson im Unternehmen für pflegende Beschäftigte hat sich als sehr wirksames Instrument erwiesen. Hilfreich sind auch kompakte Informationen zu rechtlichen Regelungen, finanziellen Hilfen sowie Pflege- und Wohnberatungsstellen.

Ein Portraitbild von Christa Beermann, Demografiebeauftragte des Ennepe-Ruhr-Kreises.
Foto: Melanie Zanin
Christa Beermann, Demografiebeauftragte des Ennepe-Ruhr-Kreises sowie Leiterin der Kampagne „arbeiten, pflegen, leben“.

Genau dort setzt die Kooperation zwischen der HS Gesundheit und dem Ennepe-Ruhr-Kreis an?

Christa Beermann: Ja, ich höre von Unternehmen immer wieder: „Bei uns hat sich keine Mitarbeiterin oder kein Mitarbeiter gemeldet, also haben wir auch keinen Bedarf etwas für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu machen.“ Das ist ein Fehlschluss. Die Pflege eines Angehörigen ist nichts, womit Angehörige „hausieren gehen“. Im Gegenteil, es ist auch heute vielfach noch ein Tabuthema. Daher sollten Unternehmen das Thema aktiv angehen und es in ihre Unternehmenskultur aufnehmen. Dafür setzt sich unsere Kampagne „arbeiten, pflegen, leben“ ein, und ich bin begeistert, mit wie viel Engagement sich auch die Studierenden der HS Gesundheit in unserer Kooperation dafür stark machen.

Prof. Dr. Tanja Segmüller: Die Pflegebedürftigkeit ist etwas, das heute zum Leben dazugehört. Die pflegerische Versorgung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen unseres Landes. Wir als Hochschule für Gesundheit möchten – ebenso wie die Ennepe-Ruhr-Kreis-Kampagne – die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege mit auf die politische und gesellschaftliche Agenda bringen. In unserem Masterstudiengang „Gesundheit und Diversity in der Arbeit“, den wir als Vollzeit– und Teilzeitstudiengang anbieten, tragen wir das wichtige Thema Gesundheit in den Kontext der Arbeitswelt und wir haben sehr früh und ganz bewusst für das Studium auch ein Teilmodul entwickelt, in dem die Studierenden sich mit dem Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auseinandersetzen.

Christa Beermann: Die Kooperation basiert genau auf diesem Teilmodul des Studiengangs. Viele Unternehmen haben leider weder Zeit noch personelle Kapazitäten, um sich dem Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf neben dem Alltagsgeschäft zu widmen. Wohl aber haben viele von ihnen Ideen wie sie das Thema bei sich im Unternehmen verankern könnten, und mit diesen Ideen können sich Unternehmen an mich wenden.

Was passiert dann mit den Ideen der Unternehmen?

Prof. Dr. Tanja Segmüller: Die Ideen bringt Christa Beermann mit in die Hochschule für Gesundheit. Zu Beginn des Semesters werden den Studierenden dann die Unternehmen mit ihren Projektideen vorgestellt. Über das Semester hinweg setzen die Studierenden in kleinen Gruppen und im engen Austausch mit den Unternehmen die Projektideen um. Sie entwickeln Materialien oder Konzepte, mit denen die Unternehmen die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf aktiv angehen können.

Christa Beermann: Und am Ende des Semesters werden alle Projektergebnisse bei einer Abschlusspräsentation in der HS Gesundheit vorgestellt. Dann sind auch die Unternehmen mit vor Ort. Sie können sich austauschen – untereinander oder mit den Studierenden – und zum Beispiel auch von den Ideen der anderen Unternehmen partizipieren. So bildet sich ein kleines Netzwerk zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.

An welchen Projektideen arbeiten die Studierenden in diesem Sommersemester?

Christa Beermann: Aktuell entwickeln sie zum Beispiel eine Vortragsreihe, mit der ein Unternehmen seine Beschäftigten rund um das Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf informieren möchte. Die Studierenden werden die Vorträge selbst im Unternehmen halten. Eine tolle Idee, denn zum Beispiel im Internet werden pflegende Angehörige mit Informationen „überschüttet“ und es kostet sie Zeit passgenaue Informationen und Angebote zu finden. Zeit, die pflegende Angehörige nicht haben. Für ein anderes Unternehmen entwerfen Studierende Flyer im Print- und Digitalformat. Das ist ein Klassiker in unserer Kooperation, denn die Flyer bündeln nachhaltig wichtige Informationen zu dem Thema. Das Pflegesystem und seine Regelungen sind kompliziert und pflegende Angehörige für jede zielgenaue Hilfe im „Pflege-Dschungel“ dankbar. Eine weitere Gruppe entwirft einen internen Newsletter, wieder eine andere Info-Plakate als Aushang im Unternehmen. In der Vergangenheit haben Studierende auch eine Serie zur Vereinbarkeit in der Mitarbeiterzeitschrift eines Unternehmens entwickelt.

Prof. Dr. Tanja Segmüller: Sehr beliebt ist auch die Mitarbeitendenbefragung, um erst einmal einen Überblick im Unternehmen zu bekommen, wie viele Beschäftigte aktuell eine Pflegetätigkeit übernehmen, wie viele diese Tätigkeit in Zukunft bei sich sehen und welche konkreten Angebote sie bei der Vereinbarkeit unterstützen können. Für viele Unternehmen ist das eine gute Basis, um sich dem Thema schrittweise zu nähern.

Was nehmen Studierende aus der Kooperation mit?

Prof. Dr. Tanja Segmüller: Uns ist eine Lehre, die eng mit der Praxis verzahnt ist, sehr wichtig. Denn natürlich lernen Studierende aus Vorlesungen und wissenschaftlicher Literatur. Sie lernen aber auch durch einen frühzeitigen Kontakt mit der Arbeitswelt, in dem sie das Erlernte anwenden können und zwar in einem geschützten Raum, in dem sie nicht wie später beim Berufseinstieg auf sich gestellt sind, sondern sich austauschen und ausprobieren können. Die Kooperation ist für alle Beteiligten ein Mehrwert, weil sie dafür sorgt, dass Wissen zirkuliert: Die Studierenden transferieren aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in die Unternehmen und die Unternehmen transferieren Wissen aus der Praxis, zum Beispiel über aktuelle Herausforderungen, vor denen sie stehen, zu den Studierenden.

Christa Beermann: Zumal Unternehmen in Zeiten eines Fachkräftemangels potenzielle Beschäftigte kennenlernen und Studierende auf potenzielle Arbeitgeber*innen treffen. Eine Win-win-Kooperation also, für Studierende wie Unternehmen und am Ende natürlich auch für die pflegenden Angehörigen.


Lesetipp: Beitrag „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ von Christa Beermann und Prof. Dr. Tanja Segmüller in: Community Health, Department of Community Health (Hrsg.), Beltz Juventa Verlag. (Das Buch ist auch in der Bibliothek der HS Gesundheit ausgestellt).

Ein Portraitbild von Anna Mona Wiesner
Foto: STUDIOLINE PHOTOGRAPHY
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