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Plakate und Installationen bei dem Tribunal
Foto: Tribunal NSU-Komplex auflösen

Eröffnung neuer gedanklicher Lernräume

31. Juli 2020

Es gibt Themen, die lassen sich nicht so einfach durch ein Lehrbuch vermitteln. Das weiß auch Prof. Dr. Christiane Falge; die Ethnologin die in ihren Lehrveranstaltungen bewusst immer wieder auf praktische Erfahrungen setzt. So hat sie mit einer Gruppe Studierender eine antirassistische Veranstaltung in Chemnitz und Zwickau besucht – für viele der Studierenden der Hochschule für Gesundheit (hsg Bochum) eine ganz neue Situation.

„Wir wissen, dass Rassismus krankmachen und töten kann. Hier in Deutschland liegen dazu leider wenige Untersuchungen vor. Neben konkreter tödlicher rechter Gewalt zeigen epidemiologische Studien aus den USA indirektere Zusammenhänge zwischen Mehrfachdiskrimimierungen und erhöhten Krankheits- und Sterberaten bei Minderheiten. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Studierenden mit den Konsequenzen von Diskriminierung und Rassismus auseinandersetzen“, erklärt Dr. Christiane Falge, Professorin für Gesundheit und Diversity im Department of Community Health der hsg Bochum.

Mit Dr. Silke Betscher von der Universität Bremen und Dr. Markus Höhne von der Universität Leipzig und Studierenden der drei Hochschulen führte sie eine Exkursion zu dem Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen‘, das vom 1. bis 3. November 2019 in Chemnitz und Zwickau stattfand, durch. Dieser Exkursion ging ein Workshop voran, bei dem Silke Betscher den Studierenden grundlegendes Wissen zum NSU-Komplex und zu rechter Gewalt vermittelte.

Solidarität mit den Opfern des NSU

Das Tribunal ist eine Veranstaltung des gleichnamigen Aktionsbündnisses ‚NSU-Komplex auflösen‘, das seit 2014 unterschiedliche Veranstaltungsformate konzipiert hat, um Solidarität mit den Opfern der neonazistischen Terrorvereinigung ‚Nationalsozialistische Untergrund‘ (NSU) zu zeigen. Im Kampf gegen Rassismus als aktive Erinnerungsarbeit rückt das jährliche Tribunal, dem auch Opfer angehören dabei die Betroffenenperspektive ins Zentrum und klagt strukturelle Ursachen an.

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„Ich habe mich auf die Exkursion gefreut. Ich hatte mir allerdings das Ganze in einem sterileren Raum vorgestellt. Also mehr wie einen wissenschaftlichen Kongress und mit Vorlesungen“, berichtet Gesundheit und Diversity-Studentin Lisa Wallbaum von ihren Erwartungen. Genau diesen „sterilen“ Raum der akademischen Lehre wollte Falge jedoch mit dieser Exkursion verlassen. Ihr war es wichtig, dass die Studierenden, von den Schicksalen, die der Rassismus in Deutschland zu verantworten hat, selbst erfahren.

Im Jahr 2019 begann das Tribunal in Chemnitz und endete dann mit einer Veranstaltung in Zwickau. In beiden Städte hatten Mitglieder des NSU gelebt, als sie die Taten begangen. Zudem gab es in den Städten immer wieder rassistisch motivierte Anschläge. Deshalb wurden sie als Handlungsort des Tribunals ausgesucht. Im Programm fanden sich Workshops, Vorträge sowie die öffentliche Verlesung einer zivilgesellschaftlich formulierten Anklage.

Außerdem gab es verschiedene Berichte von Betroffenen, die von ihren Erfahrungen mit rechter Gewalt erzählten. Diese Schilderungen waren für einige der Zuhörer*innen nicht leicht auszuhalten. „Ich glaube, wenn ich die Erzählung alleine zuhause gehört hätte, hätte mich das nicht so stark mitgenommen. Aber vor Ort war eine andere Atmosphäre und es waren so viele Geschichten auf einmal“, berichtet Serhat Sahin, einer der Teilnehmer der Exkursion.

Emotionen werden greifbar

Für Christiane Falge ist es vor allem die durch das Tribunal ermöglichte Perspektive der von Rassismus Betroffenen, die solche Veranstaltungen so wertvoll für die Studierenden macht: „Es ist die Eröffnung eines Lernraumes, in dem erfahrungsbasiertes Lernen und Emotionen möglichst eine Rolle spielen sollten. Auch wenn das manchmal schmerzt, wird auf diese Weise für unsere Absolvent*innen eine wichtige Grundlage für den Umgang mit Diversität in ihren zukünftigen Arbeitsfeldern gelegt und institutionellem Rassismus vorgebeugt“, erklärt sie.

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Auch ihre Studierenden sind beeindruckt von der Veranstaltung und sind froh, teilgenommen zu haben: „Für mich hat das Tribunal einen persönlichen Bezug zum Thema Rassismus hergestellt. Zuhause – das klingt komisch – aber habe ich einfach keine Berührungspunkte mit radikalem Rassismus“, erklärt Pauline Gerlach, hsg-Studentin im dritten Semester. Die damals 19-jährige war eine der Teilnehmer*innen, die die Exkursion besonders emotional mitgenommen hat. „Bei einem der Workshops wurden rassistische Straftaten, wie zum Beispiel auch ein Mord, beschrieben. Und den Ort hatte ich so nah vor Augen, weil mir dieser persönlich bekannt ist. Diese Diskrepanz zwischen dem schönen Ort und dieser grausamen Tat hat mich so schockiert, dass ich dem Raum verlassen musste“, erinnert sie sich.

Eine andere Erfahrung hat ihre Kommilitonin Lisa Wallbaum gemacht: „Mir persönlich hat es viel gebracht, zu sehen wie die Leute so eine Veranstaltung organisiert haben. Nun würde ich gern sowas in der Art – also vielleicht einen Workshop – selbst Zuhause organisieren.“

Für Christiane Falge war es nicht immer einfach, die emotionalen Reaktionen der Studierenden vor Ort aufzufangen. Sie ist sich jedoch sicher, dass sie mit der Exkursion den richtigen Weg eingeschlagen hat: „Ich habe auf jeden Fall vor, Studierende weitere Erfahrungen dieser Art zu ermöglichen, denn ich bin überzeugt, dass sich gesellschaftliche Strukturen so verändern lassen. Daher plane ich mit meinen Leipziger und Bremer Kolleg*innen und unseren Studierenden, auch am nächsten NSU-Tribunal, das in Nürnberg stattfinden wird, teilzunehmen. Denkbar wäre auch eine Exkursion in ehemalige Konzentrationslager – die Idee kam von den hsg-Teilnehmer*innen der Tribunal-Exkursion. Hierfür würde ich mir aber personelle Verstärkung wünschen, um Reaktionen von Studierenden gut auffangen zu können.“

"Ich habe auf jeden Fall vor, Studierende weitere Erfahrungen dieser Art zu ermöglichen"

Der Bachelor-Studiengang ‚Gesundheit und Diversity‘:

In dem Studiengang ‚Gesundheit und Diversity‚ an der Hochschule für Gesundheit (hsg Bochum) geht es darum, unser Gesundheitssystem für die Gruppen zu öffnen, deren Teilhabe an einem gesunden Leben durch die Verschränkung unterschiedlicher Diversitätsmerkmale begrenzt wird. Im Wahlmodul Subkulturen und Milieus lernen die Studierenden, wie sich die Verschränkung von subkulturellen und milieubezogenen Diversity-Dimensionen auf den Zugang zu Gesundheit auswirkt.

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Foto: pixabay
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