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Foto: shutterstock/Gorodenkoff

Blick nach Japan: Technologien in der Pflege

29. März 2023

Die Zahl älterer Menschen in Japan wächst stetig und mit ihr wachsen auch die Herausforderungen in der Pflege. Um diesen zu begegnen sucht Japan, affin für neueste Technologien, genau in jenem Sektor nach Unterstützung. „Auch bei uns sind die Herausforderungen hoch, im Vergleich hat Japan aber einen noch weitaus höheren Pflegebedarf. Der Anteil älterer Menschen in Bezug zur Gesamtbevölkerung ist dort deutlich höher als wir ihn hierzulande beobachten. Hinzu kommt, dass der ostasiatische Staat weltweit die höchste Lebenserwartung aufweist“, sagt Prof. Dr. André Posenau von der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum. Fünf Tage lang war der Wissenschaftler aus dem Department für Pflegewissenschaft auf Dienstreise in Japan, genauer gesagt in der japanischen Stadt Tsukuba. Dort hat er sich mit Ingenieuren über Technologien in der Pflege ausgetauscht, Pflegeeinrichtungen und Universitäten besucht.

„Japan ist uns, was die Verbreitung des Einsatzes von Technologien in der Pflege angeht, sicherlich voraus. Bestes Beispiel sind sogenannte Exoskelette, deren Einsatz ich mir vor Ort im Austausch mit japanischen Ingenieuren ansehen durfte. Exoskelette sind Roboteranzüge, die sich am Körper anlegen lassen und, mit feinen Sensoren bestückt, unter anderem bei Patient*innen zu Rehabilitationszwecken, etwa bei solchen mit Lähmungserscheinungen oder – und das habe ich mir auf meiner Japanreise genauer angesehen – zur Unterstützung in der Pflege eingesetzt werden. Dort tragen Pflegefachkräfte die Anzüge bei körperlich schweren Arbeiten“, erzählt André Posenau. Exoskelette können einer Pflegefachkraft zum Beispiel beim Transfer einer pflegebedürftigen Person vom Stuhl ins Bett eine Stütze sein, indem sie die Muskulatur des Rückens beim Heben oder Bewegen entlasten. André Posenau hat in Tsukuba zwei Pflegeeinrichtungen besucht, den Einsatz solcher Technologien vor Ort beobachtet und sich mit dortigen Pflegeexpert*innen ausgetauscht. „Es war interessant zu sehen, wie Pflegefachkräfte in ihrem Alltag damit arbeiten und vor allem, welche Entlastung eine solche Technologie bedeuten kann. Wenn eine Pflegefachkraft sich zum Beispiel nach vorne gebeugt hat, um eine Person aus dem Rollstuhl zu heben, hat das Exoskelett sie darin unterstützt, sich mit der pflegebedürftigen Person aufzurichten und sie zum Beispiel zur Bettkante zu tragen.“

Zu sehen ist Prof. Dr. André Posenau.
Foto: HS Gesundheit
Prof. Dr. André Posenau.

Auch bei anderen pflegerischen Aufgaben wie etwa der Körperpflege seien solche Technologien eine Hilfe, wie der Professor für Interaktion und interprofessionelle Kommunikation in Pflege- und Gesundheitsfachberufen vor Ort bestätigt bekommen hat. „In Japan gehen die Menschen zur Körperpflege vermehrt baden. Das verlangt eine andere Art der Mobilisierung der pflegebedürftigen Person, als das bei uns bevorzugte Duschen. Für die Pflegefachkräfte sind derartige Technologien eine Stütze“, erzählt André Posenau. Laut des Wissenschaftlers könnten solche Technologien auch hierzulande neben der klassischen Pflege einen Mehrwert in der Versorgung bedeuten – in der stationären wie auch häuslichen Pflege. „Solche technologischen Fortschritte können Menschen, auch das sieht man in Japan, länger aus der stationären Pflege heraushalten und ihnen ein längeres Leben in ihren eigenen vier Wänden ermöglichen.“

Mit Blick auf die Altenpflege könnten Roboteranzüge pflegebedürftigen Senior*innen einen Teil ihrer Mobilität zurückgeben, was André Posenau aus zwei Gründen begrüßt: „Es entlastet das Versorgungssystem und erhöht die Selbständigkeit und Lebensqualität der pflegebedürftigen Person. Je weniger der Mensch sich im Alter bewegt, umso weniger werden kognitive Fähigkeiten wie seine Aufmerksamkeit, Lernfähigkeit und sein Gedächtnis gefördert. Älteren Menschen kommt es dann häufig so vor, als verlernten sie alltägliche Dinge, die sie sich dann auch aus diesem Gefühl heraus nicht mehr zutrauen.“

André Posenau hat auf seiner Japanreise viel mit Pflegefachkräften über das Verständnis von Pflege und die Herausforderungen in der pflegerischen Versorgung diskutiert. „Mein Eindruck ist, dass eins der großen Pflegethemen in Japan auch die Hürde vieler Menschen dort ist, in eine stationäre Langzeitpflege zu gehen. In der japanischen Bevölkerung, so wurde mir berichtet, ist ein weit verbreiteter Gedanke, dass der Mensch selbst verantwortlich für seine Gebrechlichkeit im Alter ist. Mit diesem Gedanken haben dort viele Menschen lange zu kämpfen. Dieser Gedanke gibt den Japaner*innen auch eine andere Lebensaufgabe. Der Schritt in die stationäre Langzeitpflege scheint für sie nochmals schwerer als für uns.“ Außerdem, so die Beobachtungen des Wissenschaftlers, unterscheide sich der Umfang der pflegerischen Versorgung im Vergleich zu Deutschland. „Gezwungenermaßen, denn aufgrund der hohen zu versorgenden Menge an Menschen habe ich den Eindruck, dass die Pflege in Japan in erster Linie die Körperpflege umfasst, weniger Raum bleibt dort aktuell – auch aufgrund des Fachkräftemangels – für die aktivitäts- und ressourcenorientierte Pflege. Sie zielt aber auf etwas Wichtiges ab, nämlich vorhandene Ressourcen so lange es geht zu erhalten und vorhandene Fähigkeiten so lange es geht zu trainieren“, sagt André Posenau.

André Posenau: „Technologie und Digitalisierung können eine hilfreiche Stütze in der pflegerischen Versorgung sein. Aber beides kann den Menschen nicht ersetzen.“

Neben Mobilitätsassistenten würden in einigen Pflegeheimen humanoide Roboter, das heißt menschenähnliche Roboter genutzt, um soziale Interaktionen wie zum Beispiel Gespräche zu aktivieren. „Ich hatte erwartet, in den Pflegeheimen auf viel mehr Roboter zu stoßen. Gerade humanoide Roboter sind in Japan beliebt. Ich habe in jedem Restaurant einen Roboter gesehen, aber im Pflegebereich scheinen sie zumindest aktuell nicht stark integriert zu sein.“ Was André Posenau von seiner Reise mit zurückgenommen hat? „Den Wunsch, dass der Pflegeberuf weltweit die Anerkennung bekommt, die ihm zusteht. Technologie und Digitalisierung – das habe ich auf meiner Reise einmal mehr gesehen – können eine hilfreiche Stütze in der pflegerischen Versorgung sein. Aber beides kann den Menschen, kann die Pflegefachkraft in der Versorgung nur unterstützen, nicht ersetzen.“

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