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Blumen gegen Gewalt bei der Geburt

4. Januar 2018

Im Rahmen der ‚Roses Revolution‘ werden am 25. November von Frauen Rosen vor geburtshilflichen Einrichtungen niedergelegt, in denen sie ihrem Empfinden nach Gewalt erfahren haben. Prof. Dr. Nina Gawehn, Prof. Dr. Nicola Bauer und Dr. Anna Mikhof erklären im Gespräch mit dem hsg-magazin, was es mit der Aktion auf sich hat und berichten über den Themennachmittag „Gewalt in der Geburtshilfe“, den sie im Zuge der Roses Revolution an der hsg durchgeführt haben.

Rosen als Zeichen

Der 25. November ist der internationale Tag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Seit einigen Jahren wird dieser Tag auch genutzt, um auf eine besondere Form von Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. „Bei der Roses Revolution soll auf Gewalt und Geringschätzung von Frauen bei der Geburt aufmerksam gemacht werden“, erklärt Prof. Dr. Nina Gawehn, die an der hsg Professorin für Psychologie und zentrale Gleichstellungsbeauftragte ist. „Manche Frauen legen auch einen Brief zu der Rose“, sagt Gawehn. In diesem erklären die Frauen dann, inwiefern sie persönlich Gewalt bei der Geburt erfahren haben und wie sehr sie dies belastet. „Viele Frauen trauen sich allerdings nicht, bei der Aktion mitzumachen“, hat Prof. Dr. Nicola Bauer erfahren, die Leiterin des hsg-Studienbereichs Hebammenwissenschaft ist. Einige Frauen haben im letzten Jahr den Mut gehabt: „Über 20 Prozent der geburtshilflichen Einrichtungen sind  in Deutschland mit Rosen bedacht worden“, berichtet Gawehn. Und Mikhof, die an der hsg Vertretungsprofessorin für Gesundheitspsychologie ist, ergänzt: „Die Dunkelziffer der Betroffenen ist jedoch vermutlich sehr viel höher.“

Gewalterfahrungen bei der Geburt

Was genau zu einer Traumatisierung führen kann und wie genau die physische oder psychische Gewalterfahrung aussieht, das variiert von Fall zu Fall und von Frau zu Frau. „Vaginale Untersuchungen oder Dammschnitte können zum Beispiel als belastend empfunden werden“, sagt Bauer. Für das Fachpersonal bei der Geburtshilfe sind dies routinemäßige Vorgehen, die jedoch nicht immer mit einer von den Frauen gewünschten Sensibilität für die intime Situation durchgeführt werden. „Auch Vernachlässigung während der Geburt, Bevormundung oder Drohungen können zu gravierenden Verletzungen der Selbstbestimmung von Frauen führen.“ erläutert Mikhof.

„Mir ist bewusst, dass es auch bestimmte Systemfaktoren gibt, die Fehlverhalten erklären. Ich denke da zum Beispiel an den Faktor ‚Personalmangel‘. Aber das ist doch keine Entschuldigung für Gewalterfahrungen bei der Geburt“, bezieht Bauer Stellung. Und Mikhof ergänzt: „Durch eine  transparente und wertschätzende Kommunikation könnte oft schon viel erreicht werden, indem Frauen besser aufgeklärt, in Absprachen und Entscheidungsprozesse einbezogen werden und Untersuchungen und medizinische Eingriffe nach ausdrücklicher Einwilligung erfolgen. “ Dem kann auch Gawehn nur zustimmen: „Ereignisse können meistens verarbeitet werden, wenn sie kommunikativ gerahmt werden und somit verstehbar sind.“ Wenn eine Intervention also unangenehm oder schmerzhaft ist, kann es eine entscheidende Rolle spielen, wie diese angekündigt wird und es sollte erklärt werden, was gerade geschieht. Auch die Nachbesprechung von Geburten ist ein bedeutsamer Schritt, um Handlungen und Abläufe besser verstehen zu können. „Dramatisch finde ich es aber, wenn einer Frau ganz allgemein gesprochen gesagt wird, dass eine Geburt nun einmal weh tut“, so Bauer, die hsg-Professorin für Hebammenwissenschaft ist.

Kein Tabu-Thema

Dass die Dunkelziffer der Betroffenen, die Gewalt bei der Geburt erlebt haben, hoch eingeschätzt wird, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen: „Generell werden Gewalterfahrungen in unserer Gesellschaft oft tabuisiert. Missbräuchliche oder geringschätzige Erfahrungen während der Geburt werden kaum ernst genommen, denn im Vordergrund steht häufig das Ergebnis, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen “, sagt Mikhof. „Um von eigenen Gewalterfahrungen zu berichten oder sogar damit an die Öffentlichkeit zu gehen, braucht es viel Mut. Die Opfer von Gewalt in der Geburtshilfe erfahren oft keine Anerkennung als Opfer.“

In unserer Gesellschaft herrscht das Bild vor, dass Frauen direkt nach der Geburt erst einmal einfach nur glücklich darüber sind, dass es ihnen und ihrem Neugeborenen gut geht. In der Realität sieht es jedoch manchmal anders aus. „Gewaltsame Eingriffe bei der Geburt hinterlassen schwerwiegende psychische und physische Verletzungen. Indem diese normalisiert werden, werden Frauen nochmals in ihrem Erleben und ihrer Wahrnehmung entmächtigt.“ ergänzt Mikhof.

„Ungefähr ein Drittel empfindet ihre Geburt als potentiell traumatisierend, bis zu sechs Prozent dieser Frauen entwickeln sogar eine Posttraumatische Belastungsstörung. Ein Kernsymptom davon ist die Vermeidung von allem, was sie an das Erlebte erinnert. Das trägt dazu bei, dass die Dunkelziffer hoch ist.“ erläutert Gawehn. „Eine als traumatisch erlebte Geburt kann auch die Beziehung mit dem Neugeborenen oder die Partnerschaft beeinträchtigen. Auch Schreibabys oder Stillschwierigkeiten können damit einhergehen.“ sagt Mikhof.

Die Rolle der Hebammen

Was bei den Diskussionen zur Gewalt in der Geburt oft vergessen wird, sind übrigens die Hebammen. Sie stehen bei der Geburt quasi zwischen der gebärenden Frau und ihren Kolleg*innen und deswegen stehen sie manchmal auch zwischen Gewalterfahrung und Gewaltanwendung. Das haben auch schon Studierende der Hebammenkunde an der hsg festgestellt und sich daher fachliche Unterstützung von der Hochschule gewünscht. „Ich freue mich besonders, dass der Impuls sich hier an der hsg mit diesem Thema verstärkt auseinanderzusetzen aus der Studierendenschaft kommt. So sind im letzten Jahr einige Studierende an uns mit dem Wunsch nach einem Workshop über sekundäre Traumatisierung herangetreten“, fügt Gawehn hinzu.

„Wir sehen die Belastung der Hebammen durch Gewalt in der Geburt und wir wollen eine Sensibilität dafür hervorrufen“, sagt Bauer. Und Dr. Anna Mikhof erklärt weiter: „Mit dem Themennachmittag sollte ein Raum für eigene Erfahrungen, Ängste oder Sorgen geschaffen werden, um diese zu reflektieren, besser einzuordnen und Impulse im Umgang damit zu bekommen. Einer der Workshops griff das Thema der achtsamen Selbstfürsorge auf. Achtsamkeit  kann dabei helfen, ausgeglichener, aufnahmefähiger und stressresistenter zu bleiben, den Alltag zu entschleunigen, Situationen besser einschätzen und damit bessere Entscheidungen treffen zu können.“

Mindestens eine weitere gute Idee konnte aus den bisherigen Gesprächen zum Thema auch schon entwickelt werden: „Eigentlich sollte es immer ein Nachgespräch der Geburt mit der Hebamme geben. Doch gerade die Betreuung im späten Wochenbett wird von Hebammen oft noch nicht angeboten“, berichtet Bauer. Diese und andere Ideen, wie Gewalterfahrungen bei der Geburt besser verarbeitet oder sogar ganz vermieden werden können, wurden auch in diesem Jahr anlässlich des Tages der Roses Revolution an der hsg besprochen.

Das Ziel dieses Tages ist es zwar einerseits, dass möglichst alle Frauen, die Gewalt bei der Geburt erfahren haben, eine Rose vor ihre Geburtseinrichtung oder Klinik legen – andererseits sollen mit der Zeit aber durch gute Aufklärung und bessere Handlungen an diesem Tag immer weniger Rosen verteilt werden müssen.

Die Gießener Wissenschaftlerin Dr. Tina Jung hielt am Themennachmittag 'Gewalt in der Geburtshilfe' einen Impulsvortrag. Foto: Prof. Dr. Nina Gawehn.

Veranstaltungen an der hsg

Der diesjährige Themennachmittag ‚Gewalt in der Geburtshilfe‘ umfasste einen Impulsvortrag durch die Gießener Wissenschaftlerin Dr. Tina Jung und mehrere Workshops. Gawehn, Bauer und Mikhof hatten die Veranstaltung organisiert und durchgeführt. Über 90 interessierte Frauen meldeten sich für die Veranstaltung Ende November 2017 im Audimax der hsg an.

Die hsg-Gleichstellungsbeauftragte Gawehn zieht ein Fazit der diesjährigen Veranstaltung: „Wir konnten in den Workshops bei den Studierenden direkt nachfragen, welche Bedarfe sie bezüglich des Themas haben und welche Wünsche an die Lehre daraus entstanden sind“, sagt Gawehn. „Diese Bedarfe haben wir nun direkt für die Planung des Sommersemesters aufgreifen können.“ Gawehn verrät: „Wir haben deutlich gemerkt, dass ein Nachmittag für dieses wichtige Thema nicht ausreicht. Wir werden im Herbst 2018 das Thema im größeren Umfang bearbeiten und denken beispielweise an einen Studierenden-Kongress zur Gewalt in der Geburtshilfe.“


Text: Dr. Anna Knaup, Online-Redakteurin des hsg-magazins

Aufmacher: hsg. Zu sehen sind Dr. Anna Mikhof, Prof. Dr. Nina Gawehn und Prof. Dr. Nicola Bauer.

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