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Die Bibliothek der Zukunft

29. März 2017

Der Aufbau einer Bibliothek an der Hochschule für Gesundheit ist eine große Herausforderung: zum einen wegen der einzigartigen Fächerkombination, zum anderen wegen der sich immer rasanter entwickelnden Digitalisierung. Annette Kustos leitet die Bibliothek – mit allen Themen, die eine Neugründung so mit sich bringt.

Ein armloses Skelett steht vor Annette Kustos’ Schreibtisch, gleich neben einem Wägelchen mit englischen Teesorten. „Fridolin“, stellt sie ihn lachend vor, „irgendjemand hat ihm mal wieder die Arme abgerupft.“ Dann setzt sich die Leiterin der Hochschulbibliothek der hsg an ihren Schreibtisch. Entspannt lächelnd. Und das wirkt ein bisschen so, als scheine die große Herausforderung, vor der sie und die gesamte Hochschule für Gesundheit stehen, ihr mächtig Spaß zu machen.

Eine Bibliothek, wie man sie von früher kennt, ist das hier nicht, oder?

Annette Kustos: Nein, die Hochschule für Gesundheit hat ein sehr viel weiteres Spektrum, zu dem medizinische, therapeutische Fächer und alles, was mit der Gesundheitsversorgung und dem Gebiet der Sozialmedizin, Public Health, zu tun hat, gehören. Auch die geistes- und kulturwissenschaftlichen Aspekte spielen eine Rolle. Was war Gesundheit früher, was verstehen wir heute darunter? Wie unterstützen wir Gesundheit mit Therapien, Sozial- oder Raumkonzepten. Und welche Chancen und Grenzen ergeben sich dabei, zum Beispiel in der Tele- oder Palliativmedizin? Damit haben wir in der Bibliothek auch ein breites Spektrum an wissenschaftlicher Literatur und verschiedensten Medienformen.

Zu denen durchaus auch ein Skelett wie Fridolin gehört?

Kustos: Es sind nicht nur Bücher, sondern auch für den Laien skurrile Objekte wie dieses „Knochengerüst“ – es geht natürlich um Anatomie-, außerdem elektronische Versionen gedruckter Medien, Lernspiele, diagnostische Tests, Medien zum Anschauen, anatomische Wandtafeln…

 

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Die Bibliothek begann mit zwei Zimmern. Damals noch im Übergangsgebäude in der Universitätsstraße in Bochum.

Kustos: Ja, wir saßen mit unseren Arbeitsplätzen und den Buchregalen mitten unter den Studierenden… Wir haben auch wegen des Platzmangels zuerst mit elektronischen Angeboten angefangen. Ich komme aus dem klassischen Diplom-Bibliothekars-Bereich, habe Ende der 80er-Jahre ein geisteswissenschaftliches und bibliothekswissenschaftliches Studium abgeschlossen und dabei fast 20 Jahre in der Bibliothek der FernUniversität in Hagen gearbeitet. Dadurch war das Thema E-Learning, elektronische Literaturversorgung und der Direktversand von Medien und Artikeln an Fernstudierende mein Metier.

Und wie baut man eine Bibliothek auf?

Kustos: Ich hab erst einmal tausend Ideen entwickelt und die in einen „Entwicklungsplan“ geschrieben, die, wie ich mich selber wundere, tatsächlich auch nach und nach zum Tragen kommen. Bald gibt es eine neue Version davon. Zunächst war es auch Literaturmarktsichtung, Auswahl technischer Plattformen, ein ganz kleines Organigramm. Inzwischen sind wir sechs Personen mit verschiedenen Aufgaben. Die Bibliothek ist räumlich sehr klein, misst rund 1200 Quadratmeter. 40.000 Bände könnte man stellen, das wollen wir aber nicht, denn wir haben das Konzept einer Lern- und Forschungsbibliothek.

Eine Art virtuelle Bibliothek?

Kustos: Wenn man sich das nicht als etwas Imaginäres vorstellt, ja. Der Bibliotheksraum ist auf die digitale Ebene erweitert und nicht mehr vorrangig Speicher gedruckter Medien, sondern Arbeitsplatz, Aufenthalts- und Kommunikationsraum mit Zugang auf alle Medienformen. Es ist eine Konzentration von verteilten Medien und Services, die man da zusammenführt. Man hat auf dem Literaturmarkt mittlerweile die verschiedensten Vertriebsformen der elektronischen Literatur, die man auch erwerbungstechnisch immer prüfen muss.

„40.000 Bände könnte man stellen, das wollen wir aber nicht, denn wir haben das Konzept einer Lern- und Forschungs­bibliothek.“
Annette Kustos

Das heißt?

Kustos: Die Frage der Rechte spielt eine andere Rolle als früher: Lizenzrecht, Vertragsrecht, Urheberrecht, Benutzungsrecht… Früher hätte man sich ein Buch ausgeliehen, drei Seiten kopiert und wieder zurückgebracht. Niemand hat der Bibliothek oder den Nutzern da Verwendungsregeln verpasst. Es wurde dafür die „Bibliothekstantieme“ für den Verleih abgeführt. Punkt. Heute ist man in der Welt einer elektronischen Ressource, die man nicht mehr physisch in Besitz hat, man kauft oder „mietet“ quasi den Zugang. Sie ist bei jeder Benutzung technisch eine Vervielfältigung oder wird rein rechtlich gesehen „veröffentlicht“, wenn man sie bereitstellt. Andererseits soll das Angebot mit Recht die Belange der Benutzer*innen in der Wissenschaft erfüllen und darf nicht hemmungslos zum Nutzen der Verlage privatisiert werden. Aber sie dürfen eben nicht einfach außerhalb der Lizenz vervielfältigen, verschicken oder veröffentlichen. Der Bibliothekar muss auch das vermitteln. Hauptsächlich aber den Zugang dazu, die zielgerichtete Fach-Recherche, die Literaturverwaltung. Das ist Hauptbeitrag eines Bibliothekars oder einer Bibliothekarin für „evidenzbasiertes“ Arbeiten mit Forschungsquellen der Fachcommunity.

Wie macht sie oder er das?

Kustos: Durch Schulungen, ein Curriculum für die Studierenden und direkte Beratung. Durch die digitale Organisationsprozesse, zum Beispiel die Verbuchung der Medien mit RFID, also einer digitalen Antennenfunktechnik zum automatischen und berührungslosen Identifizieren von Objekten, sowie durch die Verbundkatalogisierung, verschlanken wir ehemals personalintensive Bereiche zunehmend und die Mitarbeiter*innen der Bibliothek übernehmen beratende Funktionen mit Outcome für die Wissenschaft. Das ist mein Ziel. All die beschafften Medien sollen an die Nutzer*innen. Ein Mensch, der in der Wissenschaft tätig ist, hat genug zu tun, er soll und will Wissenschaft betreiben, darum unterstützen wir auch die Lehrenden und Forschenden mit Einführungen in spezielle Datenbanken, Recherche-Designs oder digitalen Tools.

In welchen Medien kann online recherchiert werden?

Kustos: Wir haben hier natürlich Rechner stehen. Die Benutzer verwenden aber vermehrt eigene mobile Endgeräte, am Arbeitsplatz, Zuhause oder unterwegs. In der Regel kommt man über bestimmte Authentifizierungs-Verfahren in die Bibliothek und an die verschiedenen Ressourcen. Es gibt ein Portal, das alle Medienformen je nach Suchkriterium auffindbar macht: Bücher, E-Books, E-Journals, gedruckte Zeitschriften, und vor allem auch Artikel in all diesen Werken – das unterscheidet den klassischen Bibliothekskatalog von früher von diesem Portal, denn die Inhalte von Büchern und Zeitschriften fanden sie früher darin nicht. Man hätte dafür eine „Fachbibliographie“ –gedruckt – benutzt. Das gibt es heute weiter in Form von elektronischen Datenbanken, die speziellere Suchmöglichkeiten bieten. Die bieten wir ergänzend zum Portal an.

Gibt es einen Medienwechsel weg vom gedruckten Buch?

Kustos: Ich stelle fest, dass es hier an der Hochschule die Vorliebe für gedruckte Bücher noch gibt. Und doch gibt es den Medienwechsel im Sinne, dass man Dinge weltweit elektronisch bekommt – und die Wissenschaftler wollen ihre E-Journals, die Volltexte online – aber nicht in dem Sinne, dass der Mensch mit dem Papier aufhört. Er hört auch bisher nicht damit auf, einen Text wirklich „besitzen“ zu wollen, den in der Hand zu haben und in Ruhe lesen zu können – und zwar unabhängig von einem Bildschirm, insbesondere beim Buch. Was uns das sagt: Digitalisierung ist toll, aber das klassische Buch erfüllt Bedürfnisse der Darstellung, Vertiefung und der Sicherung von Wissen. Selbst digitale Langzeitarchivierung – ein hochwichtiges Thema – erfüllt dies nie vollständig.


Das Interview führte Tanja Breukelchen, freie Journalistin. Der Text erschien am 29. März 2019 online im hsg-magazin.
Aufmacher: hsg Bochum

Auf dem Bild sind alle Beteiligten des Projekts zu sehen.
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