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Foto: HS Gesundheit/Volker Wiciok

Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern kompetent beraten

16. November 2022

Die Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum bietet in ihren Programmen zur Fort- und Weiterbildung jetzt auch einen Zertifikatskurs zur Entwicklungspsychologischen Beratung (EPB) für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern unter drei Jahre an. Der Kurs wird in Kooperation mit dem Institut Kindheit und Entwicklung sowie dem Verein Entwicklungspsychologische Beratung, Therapie und Weiterbildung berufsbegleitend angeboten. Im Interview verraten Prof.in Dr.in Nina Gawehn, Kursleiterin und Professorin für Psychologie an der HS Gesundheit sowie Dr.in Tanja Besier, Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Dozentin am Institut Kindheit und Entwicklung, unter anderem, an wen sich das Weiterbildungsangebot richtet, wie es aufgebaut ist und wieso die Nachfrage nach derartigen Beratungsangeboten steigt.

Was umfasst die Entwicklungspsychologische Beratung?

Tanja Besier: Die Entwicklungspsychologische Beratung ist ein Angebot zur Förderung der elterlichen Feinfühligkeit in der frühen Kindheit. Dabei wird mit Video-Feedback gearbeitet. Die Berater*innen zeigen den Eltern konkret am Video, woran sie die Befindlichkeit ihres Kindes erkennen können und erarbeiten mit ihnen Möglichkeiten zur Unterstützung und Stimulation ihres Kindes. Dies dient dem Aufbau einer positiven Eltern-Kind-Interaktion und fördert eine sichere emotionale Bindung beim Kind.

Wozu befähigt die neue Weiterbildung Entwicklungspsychologische Beratung die Teilnehmer*innen?

Tanja Besier: Durch den Zertifikatskurs lernen die Teilnehmer*innen, Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern kompetent zu beobachten, zu beraten und mit ihnen gemeinsam Handlungsstrategien zu erarbeiten. Die Berater*innen können dadurch zum Beispiel Familien mit Kindern mit Regulationsstörungen oder Eltern mit psychischer Erkrankung besser begleiten, ihnen das Verhalten und die Befindlichkeit ihrer Babys näherbringen und so die Eltern-Kind-Interaktion in diesen belasteten Kontexten stärken. Darüber hinaus können EPB-Berater*innen Familien zu früh geborener Kinder, die häufig durch die oft traumatisch erlebte Anfangszeit belastet sind, unterstützen oder im Alltag helfen, einer Überreizung von Kindern vorzubeugen und damit kräftezehrenden Schreiphasen der Babys entgegenzuwirken.

Foto: HS Gesundheit/Volker Wiciok
Prof.in Dr.in Nina Gawehn, Kursleiterin und Professorin für Psychologie an der HS Gesundheit.

An wen richtet sich das neue Weiterbildungsangebot?

Nina Gawehn: An alle interessierten, professionellen Helfer*innen, die mit Säuglingen und Kleinkindern bis zum Alter von drei Jahren und deren Familien zusammenarbeiten. Konkret können das zum Beispiel (Familien-)Hebammen, (Familien-)Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger*innen, Psycholog*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Kinderärzt*innen und andere Therapeut*innen, die mit dieser Zielgruppe arbeiten, sein. Absolvent*innen oder Kooperationspartner*innen der HS Gesundheit, die sich in ihren Kompetenzen in der Arbeit mit Kindern unter drei Jahren weiterbilden wollen, sind ebenso willkommen wie Kolleg*innen aus der Praxis oder Absolvent*innen anderer Hochschulen. Gerade eine heterogen zusammengesetzte Gruppe kann für alle ja besonders bereichernd sein, tiefe Einblicke in unterschiedliche Arbeitsgebiete ermöglichen und Netzwerkwissen ausbauen.

Wie ist der Kurs aufgebaut? Welche Grundlagen aus der Theorie werden zum Beispiel vermittelt?

Nina Gawehn: Die Weiterbildung gliedert sich in vier viertägige Blockveranstaltungen, die sich über einen Zeitraum von gut einem Jahr erstrecken. Alle Blöcke stehen unter bestimmten inhaltlichen Schwerpunkten. Beim ersten Block geht es darum, dass die Teilnehmer*innen die Methode der EPB und die entwicklungspsychologischen Grundlagen, wie zum Beispiel die Bindungstheorie, kennenlernen. Sie üben mit Videos „Babylesen“, das bedeutet, sie üben kindliche Feinzeichen für Entspannung und Interaktionsbereitschaft, aber auch für Belastung und Selbstregulation zu erkennen. Sie lernen auch Methoden kennen, um die intuitiven elterlichen Kompetenzen und die Feinfühligkeit zu beobachten, um damit zu objektivieren, was in der Interaktion passend und gelungen und an welchen Stellen es zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen noch nicht ganz rund läuft. Wo Eltern zum Beispiel die Verhaltenssignale ihres Kindes übersehen, noch nicht angemessen interpretieren oder verzögert reagieren. Wo Eltern – aus der Perspektive ihres jeweiligen Kindes – zu harsch, zu schnell, zu nah oder auch zu wenig, zu flach, zu langsam mit ihrem Kind interagieren.

Foto: privat
Diplom-Psychologin Dr.in Tanja Besier.

Und in den folgenden Blockveranstaltungen?

Nina Gawehn: In den späteren Blöcken stehen unter anderem folgende Fragen im Fokus: „Wie erkenne ich eine kindliche Regulationsstörung?“, „Was hilft Kindern, psychisch kranker Eltern?“ oder „Wie reagiert man bei Kindeswohlgefährdung?“ Die Teilnehmer*innen beobachten in Videosequenzen besonders vulnerable, herausgeforderte Familiensysteme. Daneben gibt es Übungen zur direkten Beratungsarbeit mit den Familien und auch die Reflektion der eigenen Beraterpersönlichkeit und des eigenen Arbeitsumfeldes werden Thema sein. Einen Höhepunkt bildet der letzte Block, wo die Teilnehmer*innen einen längeren EPB-Beratungsprozess teilen, den wir dann in der Gruppe reflektieren. Dabei tauchen oft noch neue Hypothesen, Fragen oder Impulse auf, die die Teilnehmer*innen und letztlich die Familie auf ihrem Weg weiterbringen können. Darauf freue ich mich als Dozentin ganz besonders!

Ein wichtiges Medium in der Beratung ist also das Videoformat: Wieso und was lernen die Teilnehmer*innen darüber?

Nina Gawehn: Die EPB ist ja als videogestütztes Format konzipiert. Die Berater*innen filmen immer wieder kurze Interaktionen zwischen Mutter beziehungsweise Vater und dem Kind. Diese werden ausgewertet, in manchmal ganz kurze „Schnipsel“ geschnitten und in der Beratung mit den Eltern angesehen. Die EPB nutzt hier also die Kraft der Bilder. Das heißt, es ist möglich, mit den Eltern gemeinsam genau zu schauen, was die Kinder tun, wohin sie schauen, ob sie sich ab- oder zuwenden und wie die Eltern darauf reagieren. Oft sind die Zeichen der Kinder sehr kurz sichtbar und die Interaktion geht in Sekundenschnelle hin und her. Mit dem Video kann ich stoppen, vor- oder zurückspulen, die Geschwindigkeit ändern. Ich kann genau prüfen, was passiert ist, bevor das Kind gelächelt hat und was darauffolgte. Eltern können aus einer Außenperspektive ein Standbild anschauen, wie ihr eigenes Kind sie voller Freude und Liebe anstrahlt. Oder sie können erkunden, ob ein Angebot, das sie ihrem Kind machen, mit Freude aufgenommen wird oder ob das Kind darauf feine Zeichen von Instabilität und Stress zeigt. Und das alles ist ganz unmittelbar sichtbar, erlebbar, erfahrbar – das muss nicht lange erklärt und in Worte gefasst werden. Als Beraterin kann ich es einfach zeigen, die Eltern durch Fragen anregen und einladen, die Perspektive zu wechseln und zu überlegen, wie es ihrem Kind in einer bestimmten Situation wohl geht, welche Bedürfnisse es haben könnte und was es nun von seinen Eltern benötigen würde, damit diese Bedürfnisse sich beruhigen können. Zu sehen und zu erkennen, was gut klappt und auch zu sehen und zu erkennen, wo es hakt und Ideen zu entwickeln, damit es weniger haken muss – das kann viel Kraft für Veränderung entfalten!

Wie entwickelt sich die Nachfrage nach Entwicklungspsychologischen Beratungsangeboten und was sind Gründe dafür?

Tanja Besier: Die Nachfrage nach Beratung im Bereich Säuglinge und frühe Kindheit ist in den letzten Jahren stetig gewachsen und eine hohe Unsicherheit bei jungen Eltern ist spürbar. Gerade in sozialpädiatrischen Zentren und im Bereich der Frühen Hilfen beobachten wir, dass der Bedarf an Fachkräften für frühkindliche Entwicklung größer wird. Die hohe Informationsflut im Internet und in sozialen Netzwerken spielt dabei sicher eine Rolle. Hinzu kam die Belastung durch die Corona-Pandemie und nun die Energiekrise, die insgesamt die Besorgnis und den Stress in Familien erhöht hat. Viele Familien suchen nach Unterstützung und wir können mit der EPB da sicherlich einen wertvollen Baustein zur Versorgung und Entlastung beisteuern.


Weitere Informationen finden Sie über die Website der HS Gesundheit. Dort können Sie sich auch direkt zum Kurs anmelden. Bei Fragen wenden Sie sich gerne an das Weiterbildungsteam.

Das komplette berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungsangebot der HS Gesundheit für die verschiedenen Zielgruppen des Gesundheitssystems finden Sie hier.

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