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Foto: HS Gesundheit / Jürgen Nobel (Collage)

Leben im Krieg – Wie kann die Ergotherapie ukrainischen Kindern helfen?

17. Januar 2023

Auf der vierten internationalen Ergotherapie-Konferenz in der Ukraine tauschten sich renommierte Ergotherapeut*innen aus der Ukraine, den USA, Kanada, Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und Neuseeland darüber aus, wie ihr Berufsstand inmitten des Krieges ukrainischen Kindern und ihren Familien Hilfe bieten kann. Mit dabei war auch Prof. Dr. Dr. Christian Postert, Professor für Ergotherapie an der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum sowie Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut. Er referierte darüber, wie die mentale Gesundheit von Kindern und ihren Familien in Krisensituationen aufrechterhalten werden kann und resümiert: „Es war eine sehr bewegende Online-Konferenz, simultan ins Ukrainische übersetzt, mit hohem Engagement organisiert in Zeiten des Krieges und auf alles vorbereitet – auch darauf, dass die Live-Übertragung per Video jederzeit durch einen russischen Raketenangriff unterbrochen werden kann.“

Welche Folgen haben die Kriegshandlungen für die mentale Gesundheit der Kinder?

Prof. Dr. Dr. Christian Postert: Viele Kinder, das wissen wir aus dem Austausch mit den ukrainischen Ergotherapie-Kolleg*innen, leiden unter massiven akuten Belastungssymptomen. Zu jeder Tag- und Nachtzeit können die Sirenen losheulen und treiben Kinder in Bunker oder kahle Kellerräume, wo sie in Ungewissheit oft stundenlang verharren. Ohne Sicherheit. Ohne Elektrizität. Ohne Heizung. Ohne Wasser. Oft auch ohne Eltern. Denn vielfach ist die Familie nicht in der Nähe, wenn Angriffe erfolgen, zum Beispiel zu Kita- oder Schulzeiten. Die Kinder hören die Detonationen und wissen nicht, wie es ihren Eltern und Angehörigen geht. Sie bekommen mit, dass Menschen sterben oder im Krieg verstümmelt werden. Ungefiltert, denn in Social-Media-Zeiten gibt es keinen Ort mehr, der sie vor solchen Bildern schützt. Ihr Zuhause haben viele Kinder und Familien verloren. Sie leben in Notunterkünften, eng zusammengepfercht mit völlig fremden Menschen. Manche Kinder reagieren stark depressiv und haben das Essen und Spielen eingestellt. Andere stehen wie unter Strom, werden von Trennungsängsten verfolgt, können nicht einschlafen, haben Alpträume und ziehen sich sozial zurück. Wieder andere Kinder werden von Nachhallerinnerungen verfolgt. Das heißt, sie durchleben immer wieder die traumatische Situation, wie zum Beispiel die Rakete ins Nachbarhaus einschlägt und vertraute Menschen tötet. Für die Entwicklung und mentale Gesundheit der Kinder ein katastrophaler Zustand. Eine ergotherapeutische Kollegin aus der Ukraine äußerte sich so: ‚Unsere alte Normalität ist von jetzt auf gleich weggebrochen. Unsere neue Normalität sind traumatisierte Kinder.‘

Ein Porträt von Prof. Dr. Dr. Christian Postert.
Foto: HS Gesundheit
Prof. Dr. Dr. Christian Postert, Professor für Ergotherapie an der HS Gesundheit sowie Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut.

Wovon hängt es ab, ob Kinder aus einer Kriegserfahrung ein psychisches Trauma entwickeln?

Prof. Dr. Dr. Christian Postert: Wir unterscheiden in der Traumaforschung äußere Traumata von psychischen Traumata. Äußere Traumata sind verstörende oder als lebensbedrohlich empfundene Ereignisse wie entsprechende Kriegserfahrungen. Aber nicht jedes dieser äußeren Traumata führt zu einem psychischen Trauma oder, wie wir es auch nennen, zu einer Traumafolgestörung. Ob sich ein psychisches Trauma entwickelt, hängt stark von der individuellen Widerstandsfähigkeit und dem familiären und sozialen Rückhalt des Kindes ab. Kinder können sehr widerstandsfähig sein, wenn sie in einer Familie aufwachsen, die sie emotional trägt. Wenn sie Eltern haben, die ihnen zuhören, die sie in den Arm nehmen und trösten, die ihnen Verständnis und Fürsorge schenken.

In solch einem Umfeld können viele Kinder auch sehr schwierige Erfahrungen langfristig verarbeiten, ohne psychisch krank zu werden. In der Ukraine sind jedoch Kinder wie Eltern gleichermaßen von Kriegshandlungen betroffen. Insofern sind auch die Eltern schwer belastet, weil sie sich mit all ihrer Kraft für das Überleben ihrer Familie einsetzen und im Überlebenskampf funktionieren müssen, keinen Platz für ihre eigenen Gefühle haben. Dann ist es nicht leicht, gleichzeitig der emotionale, sensible und fürsorgliche Halt für das eigene Kind zu sein. Zumal sich die russischen Angriffe auch gegen die überlebensnotwendige zivile Infrastruktur richten, wodurch Eltern nicht nur plötzlich ihre Arbeit verlieren, sondern auch viele Betätigungen wegfallen, die wichtig sind, um den Alltag einer Familie sinnvoll und kindgerecht zu gestalten. Insofern sind Kinder in diesem Krieg oft mehrfach betroffen: Sie machen am eigenen Körper schreckliche Erfahrungen, sie verlieren die emotionale Verfügbarkeit der Eltern, und sie verlieren die Sicherheiten ihres kindlichen Alltags. All diese Ressourcen brauchen sie aber, um ihre immensen Belastungen verarbeiten zu können.

Wie kann die Ergotherapie Kinder und Familien hier unterstützen?

Prof. Dr. Dr. Christian Postert: Ergotherapie kann auf drei Ebenen helfen: Erstens kann sie wieder die emotionale Verfügbarkeit der Eltern stärken. Ergotherapeut*innen können Eltern mit einem sensiblen Blick für die Belange der Kinder bei Alltagsbetätigungen unterstützen. Dazu gehört zum Beispiel die Hausaufgabenbetreuung, das gemeinsame Spielen oder Einnehmen von Mahlzeiten. Ein hilfreiches Instrument ist zum Beispiel die ressourcenorientierte Videofeedback-Beratung, bei der Ergotherapeut*innen Betätigungen aus dem Alltag der Familie filmen, mit den Eltern gemeinsam diese Filmsequenzen anschauen und ihnen selbstwertstärkend ihre emotionalen Kompetenzen im Umgang mit den belasteten Kindern wieder bildlich vor Augen führen und zugänglich machen.

Zweitens kann Ergotherapie auf der Ebene der Community aktiv werden, wir sprechen in diesem Zusammenhang von der gemeinwesenorientierten Ergotherapie. Dabei gehen Ergotherapeut*innen in die Community, zum Beispiel in die Nachbarschaft hinein und überlegen gemeinsam mit Eltern, wie ein sinnvoller Alltag für die Kinder gestaltet werden kann. Die Ergotherapie kann Eltern Raum geben, für ihre Kinder da zu sein und wieder ein kleines Stück Normalität einkehren zu lassen. Sie stärkt so die Selbstwirksamkeit der Einzelnen wie auch der Gemeinschaft, indem sie Familien hilft, gemeinsam mit anderen aktiv zu werden. Aktiv meint, zum Beispiel gemeinsam öffentliche Spielplätze wiederaufzubauen, Gemeinschaftsgärten zu gestalten oder einen Sportverein zu gründen. Dabei kommt das Wissen, was den Menschen vor Ort eine Hilfe ist, aus der Community selbst. Die Ergotherapie begleitet die Aktivitäten unterstützend, man könnte sagen moderierend. Studien zeigen, dass sich das sehr positiv auf die mentale Gesundheit von Eltern und Kindern auswirkt.

Drittens kann die Ergotherapie auf der Ebene des Kindes selbst intervenieren. Ergotherapeut*innen können helfen Räume zu gestalten, in denen sich Kinder austoben, in denen sie spielerisch und sportlich aktiv sein können. Das ist für einen kindlichen Körper, der durch das Miterleben des Krieges unter Dauerstress steht, wichtig, um Ängste und Anspannung abzubauen. Ebenso finden Kinder häufig im therapeutischen Malen oder Theaterspielen eine Stütze, das Erlebte zu verarbeiten. Auch ergotherapeutisch angeleitete Achtsamkeitsübungen können helfen, Kinder zu entspannen, genauso wie Traumreisen, in denen der oder die Ergotherapeut*in das Kind gedanklich mit auf die Reise an einen schönen, beruhigenden Ort nimmt. Wenn die Ergotherapie gleichzeitig auf diesen drei Ebenen und gemeinsam mit anderen Professionen arbeitet, können die Selbstheilungskräfte von Kindern und Familien am besten aktiviert werden.

Wie wichtig ist eine schnelle Hilfe?

Prof. Dr. Dr. Christian Postert: Kinder in Not sind immer Notfälle, denn Kinder befinden sich in der wichtigsten Entwicklungsphase ihres Lebens. Alle Erfahrungen schreiben sich neurobiologisch in ihr entwickelndes Gehirn ein, und das manchmal lebenslang und umso ausgeprägter, je jünger sie sind. Bei Kindern, die aufgrund solch schlimmer Erlebnisse permanent unter Stress stehen, deren Angstzentrum dauerhaft übererregt ist, weil im Inneren unaufhörlich Warnsirenen heulen, reichen kleine Anlässe aus, um das körpereigene Stresshormonsystem massiv zu aktivieren. Das steigert auf Dauer nicht nur die Gefahr für kardiovaskuläre Erkrankungen, sondern schädigt auch Hirnstrukturen wie den Hippocampus, dessen Aufgabe es unter anderen ist, neu eintreffende Sinneseindrücke zu sammeln und in einem autobiografisch wieder abrufbaren Gesamtzusammenhang im Gedächtnis zu speichern. In eigenen neurowissenschaftlichen Studien konnten wir zeigen, dass der Hippocampus bei kindlicher Traumatisierung langfristig an Volumen und Leistungsfähigkeit verliert. Daher ist eine schnelle Hilfe gerade bei Kindern enorm wichtig.

Prof. Dr. Dr. Postert: „Die Ergotherapie kann Eltern Raum geben, für ihre Kinder da zu sein und wieder ein kleines Stück Normalität einkehren zu lassen.“

Sie haben auf der Konferenz einen Vortrag zur traumasensiblen Ergotherapie gehalten. Was haben Sie selbst von der Konferenz mitgenommen?

Prof. Dr. Dr. Christian Postert: Nach meinem Vortrag fragte mich eine Ergotherapeutin aus der Ukraine, wie denn die Versorgung ukrainischer Geflüchteter in Deutschland aussehe. Aus meiner Sicht eine ganz entscheidende Frage. Ob jemand, der eine schlimme Kriegserfahrung macht, eine Traumafolgestörung entwickelt, entscheidet sich nicht primär im Moment des Granateneinschlags, sondern hängt in hohem Maße von den Tagen, Wochen und Monaten nach dem erlebten äußeren Trauma ab. Es hängt auch ab von der Frage, wie geflüchtete Familien in anderen Ländern aufgenommen werden, in welchem Umfeld sie dort leben. Wird ihnen die Möglichkeit gegeben, wieder selbstbestimmt Normalität und Sicherheit zu leben? Werden Kinder schnell integriert? Bekommen sie zeitnah einen Platz in einer Kindertagesstätte? Werden sie in einen Sportverein aufgenommen? Oder verharren sie lange Zeit in chaotischen Verhältnissen in überfüllten regionalen Sammelstellen? Von den Strukturen, die wir ihnen bieten, ist es abhängig, ob Kinder und Familien ihre Selbstwirksamkeit und ihre inneren Heilungskräfte schnell aktivieren können, was die Wahrscheinlichkeit für eine vollständige Genesung deutlich erhöht. Die Nachfrage der ukrainischen Ergotherapeutin war gar nicht kritisch gemeint. In ihr steckte vielmehr Neugierde, wie diese traumatherapeutischen Erkenntnisse in Deutschland im Umgang mit Geflüchteten umgesetzt werden. Und sie erinnert daran, dass wir alle eine große Verantwortung haben, ob sich die geflüchteten Kinder und ihre Familien in Deutschland nachhaltig von diesen schlimmen Erfahrungen erholen und gesund entwickeln können.

Foto: HS Gesundheit/ds
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