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Foto: HS Gesundheit/ds

„Diversitätskompetenz ist ein erlernbares Werkzeug“

20. Dezember 2022

Die Weiterentwicklung der Lehre zu fördern ist ein Ziel im Hochschulentwicklungsplan 2022-2026 der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum. Dazu veranstaltet das Lehr-Lernzentrum regelmäßig einen Round Table Lehre, der zur Diskussion über aktuelle Fragestellungen anregt. Jüngstes Beispiel: Wie kann die Lehre künftig noch gender- und diversitätssensibler gestaltet werden? Eingeladen wurde dazu Referentin Dr. Sandhya Veena Küsters. Sie hat als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HS Gesundheit bereits im Department of Community Health gearbeitet und ist heute freiberufliche Trainerin und Beraterin für interkulturelle Kompetenz.

Welche Bedeutung hat Diversitätskompetenz und warum ist es wichtig – auch für Hochschulen – an dem Punkt weiterzuarbeiten?

Dr. Sandhya Küsters: Diversitätskompetenz meint den kompetenten Umgang mit Vielfalt. Bei Vielfalt im hochschulischen Kontext denke ich an die Vielfalt biografischer Hintergründe bei Studierenden, Wissenschaftler*innen oder Mitarbeiter*innen aus der Verwaltung im Hinblick auf Diversitätsmerkmale wie etwa körperliche und geistige Fähigkeiten, sexuelle Orientierung oder die soziale Herkunft. Diversitätskompetenz ist ein erlernbares Werkzeug und auf der Ebene der Interaktion vergleichbar mit Fähigkeiten der Interkulturellen Kompetenz. Hier sind Offenheit und Toleranz, Flexibilität oder die Fähigkeit zum Perspektivwechsel gefragt. Diversitätskompetenz geht aber über diese Ebene sozialer Kompetenzen hinaus, nämlich beinhaltet sie gleichzeitig den Anspruch, solche Strukturen und Machtasymmetrien, die Exklusion erzeugen, aufzudecken und Veränderungen anzustoßen. Diversitätskompetenz in der Hochschule zu leben ist ein Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit.

Dr. Sandhya Küsters
Foto: HS Gesundheit
Dr. Sandhya Veena Küsters, freiberufliche Trainerin und Beraterin für interkulturelle Kompetenz.

Können Sie Beispiele nennen für generelle Fallstricke in der Lehre?

Dr. Sandhya Küsters: Nicht offen sein. Fallstricke passieren dann, wenn der sogenannte Unconscious Bias greift. Der Unconscious Bias bedeutet übersetzt „unbewusste Voreingenommenheit“ und wir alle sind durch unsere Erfahrungen und gesellschaftlichen Einflüsse voreingenommen. In solchen Momenten fehlt uns die selbstkritische Überprüfung. Es spielt dabei keine Rolle, ob ich es nicht auch gut fände, mehr Vielfalt im Hörsaal zu haben. Das Gehirn mag sich wiederholende Muster, weil sich dadurch für uns die Komplexität im Alltag reduziert. Unbewusst stabilisiere ich dann möglicherweise ein Muster und richte mich mit meiner Lehre ein. Aber wir als Lehrende haben die Aufgabe, uns unserer eigenen Voreingenommenheit zu stellen. Der Unconscious Bias ist menschlich und wird gefüttert durch Zeitdruck, Müdigkeit und emotionale Herausforderungen. Das lähmt unser abwägendes Denksystem und begünstigt schnelle und musterhafte Denkprozesse.

Wie können solche Fallstricke in der Lehre gemieden werden?

Dr. Sandhya Küsters: Eine Methode für mehr Bewusstsein ist mit Kontraststereotypen zu arbeiten und diese auch in die Lehre zu integrieren zum Beispiel anhand von Bildern oder Fallbeispielen, die in Kontrast zu dem stehen, was ich selbstverständlich erwarte.

Wenn ich als Lehrende stets von einer bestimmten Zielgruppe ausgehe, bereite ich meine Studierenden möglicherweise auch auf diese Gruppe vor. Arbeite ich bewusst mit Bildern und Fallbeispielen, die Diversität in ihrer Bandbreite abbilden, dann bereite ich Studierende auch nicht nur auf eine bestimmte, vermeintlich mehrheitsgesellschaftliche Gruppe vor.

Welche Impulse für mehr Diversitätssensibilität und -gerechtigkeit in der Lehre würden Sie setzen? Wie kann Lehre künftig noch gender- und diversitätssensibler gestaltet werden?

Dr. Sandhya Küsters: Ich würde gerne drei Impulse setzen. Zum einen: Neugierig sein! Ich empfehle jedem Lehrenden mit den Studierenden in den Austausch zu treten, vorab oder spätestens in der ersten Lehrveranstaltung alle Studierenden zu fragen, ob es besondere Bedarfe gibt und darauf hinzuweisen, dass generell immer die Gelegenheit besteht, einen, also die Lehrperson, anzusprechen oder eine E-Mail zu schreiben. Ich weiß, dass das an der HS Gesundheit bereits gelebt wird. Bei mir führte das beispielsweise mal dazu, dass mich eine Studierende während einer depressiven Phase darüber informiert hat, dass sie in der Lehrveranstaltung nicht angesprochen werden und spontan entscheiden können möchte, bis zu welchem Grad sie am Unterrichtsgeschehen teilhaben würde. Dieses offene Gespräch gab ihr Sicherheit in der Lehrveranstaltung und ich konnte ihre plötzliche Zurückhaltung verstehen. Anderes Beispiel zu diesem Impuls: Ich hatte einen Studierenden aus dem Autismus-Spektrum. Mit dem Studierenden habe ich mich über autismussensible Hochschullehre ausgetauscht. Er wies mich darauf hin, dass für ihn klare Aufgabenstellungen und das Weglassen von Metaphern hilfreich seien. Gleichzeitig betonte er, dass das inhaltliche Arbeiten für ihn – wie im Übrigen auch für viele andere Autist*innen – einfach sei. Es seien eher vermeintlich kleine Aufgaben des Alltags, die größere Herausforderung darstellen würden. Gruppenarbeiten, viele Geräusche und ein nicht klarer Ablauf würden dazu führen, dass diese Flut von Informationen nicht ohne weiteres verarbeitet werden könne. Ich bin dankbar für diesen Austausch und habe nun eine ganz andere Haltung gegenüber Studierenden aus dem Autismus-Spektrum. Ich bin offener.

Dr. Sandhya Küsters: „Eine diversitätssensible Lehre führt dazu, dass Studierende der HS Gesundheit mit Einstieg ins Berufsleben bereits ein Gefühl für Gesundheits-gerechtigkeit entwickelt haben.“

Und Ihre anderen beiden Impulse für die Lehre?

Dr. Sandhya Küsters: Peer-To-Peer-Mentoring: Es könnten bestimmte Studierende zum Thema Diversity und Bildungsgerechtigkeit an Hochschulen gecoacht werden, dann haben Studierende Ansprechpartner*innen auf Augenhöhe. Für meinen dritten Impuls möchte ich von einer Unterrichtsmethode der Diversitytrainerin Guðrún Pétursdóttir erzählen, die ich im Rahmen eines Erasmus-plus-Aufenthalts in Island kennengelernt habe. Besonders gut geeignet für die Hochschullehre ist eine Kooperative Gruppenmethode, die möglichst oft im Semester und mit derselben Gruppe an Studierenden durchgeführt werden sollte. Die Lehrperson teilt die Studierenden vorab in Gruppen zu sechs Personen ein. Jede*r bekommt eine Rolle zugewiesen, zum Beispiel als Organisator*in, Zeitmanager*in oder Materialorganisator*in. Neu an Pétursdóttir Methode ist, dass es hier die Rollenkarte „Harmonizer*in“ gibt. Diese Person hat die Aufgabe, dass sich alle in der Kleingruppe möglichst wohl fühlen, dass Gespräche über individuelle Unsicherheiten offen besprochen werden können und dass bei Diskriminierung oder der Reproduktion von Stereotypen eingegriffen wird. Jede Person müsste im Semester mehrfach jede Rolle zugewiesen bekommen. Ohne solche Rollenkarten kann Gruppenarbeit Ungleichheit verstärken, weil aus der Erfahrung heraus Studierende aus Akademiker*innenhaushalten sich beispielsweise eher zur Präsentation oder Organisation bereiterklären. Studierende, die zum Beispiel noch nicht so gut deutsch sprechen, melden sich eher selten zur Präsentation der Ergebnisse und können diese Kompetenz nicht verbessern. Die Methode entlastet zugleich Lehrende, auch wenn die Vorbereitung erst mal mehr Arbeit bedeuten kann, als etwa eine eher frontale Veranstaltung.

Inwieweit bereitet eine Hochschule die Studierenden mit einer gender- und diversitätssensiblen Lehre auch auf die spätere Praxis, aufs spätere Berufsleben vor?

Dr. Sandhya Küsters: Unsere Gesellschaft ist komplex und vielfältig. Eine diversitätssensible Lehre führt dazu, dass Studierende der HS Gesundheit mit Einstieg ins Berufsleben bereits ein Gefühl für Gesundheitsgerechtigkeit entwickelt haben. Zugangsbarrieren und Versorgungslücken bestimmter benachteiligter Gruppen haben dann weniger Nährboden und die Chance, gesehen zu werden. Es führt also zu nicht weniger als zu einer gerechteren Gesundheitsversorgung aller! Und die Studierenden erlangen eine Handlungssicherheit und das Selbstvertrauen, auch mit komplexen Fällen gut umgehen zu können. Welch eine Ressource!

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