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Dr. Fabian van Essen (links im Bild)Thomas Müller und Robert Jureczka (rechts im Bild).

Gesundes Wattenscheid

28. Juni 2017

Studierende der Hochschule für Gesundheit (hsg) haben mit Beschäftigten der Werkstatt Constantin erarbeitet, was sich in Wattenscheid verändern müsste, damit es sich dort aus der Sicht der Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen gesünder leben lässt. Das Projekt ‚Gesundes Wattenscheid‘, welches Dr. Fabian van Essen, Vertretungsprofessor ‚Behinderung und Inklusion‘ im Department of Community Health der hsg, Ende 2016 in Kooperation mit der Werkstatt Constantin sowie dem Stadtteilmanagement Wattenscheid durchgeführt hat,  hat einige interessante Ergebnisse hervorgebracht. Davon erzählen die beiden Studenten Robert Jureczka und Thomas Müller sowie Dr. Fabian van Essen in einem Gespräch mit dem hsg-magazin.

Herr van Essen, welches Ziel haben Sie mit dem Projekt verfolgt?

Dr. Fabian van Essen:  Mein Ziel war es, eine partizipative Arbeitsgruppe zu etablieren, in der Studierende des vierten Semesters im Seminar ‚Behinderung und Inklusion‘ im Studiengang ‚Gesundheit und Diversity‘ der hsg mit Beschäftigten mit so genannten geistigen Behinderungen der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in Wattenscheid zusammenarbeiten.

Partizipative Arbeitsgruppe heißt in diesem Zusammenhang,…

van Essen:  …dass Studierende gemeinsam mit den Beschäftigten zum Thema ‚Gesundheit‘ arbeiten sollten. Dazu konnten beide Gruppen auf unterschiedliche Weise etwas beitragen.

Wie kamen Sie auf Wattenscheid?

van Essen:  Es gibt dort ein ‚Integriertes Städtebauliches Entwicklungskonzept‘ (ISEK) mit dem Titel ‚Gesundes Wattenscheid – Familien-freundlich und generationengerecht‘. Das ISEK hat sich zum Ziel gesetzt, unter dem Leitthema Gesundheit die Lebensqualität in Wattenscheid zu verbessern. Hier konnten wir es ermöglichen, dass sich die Werkstattbeschäftigten – ebenso wie alle anderen Bürger*innen auch –beteiligen konnten. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen im Kontext solcher Beteiligungsverfahren häufig nicht berücksichtigt werden,  obwohl der Partizipationsanspruch in der Behindertenrechtskonvention rechtlich festgeschrieben ist

Es ist davon auszugehen?

van Essen:  Ja. Hier existiert leider noch eine große Forschungslücke. Es fehlen aber auch die Methoden, mit denen Menschen mit so genannter geistiger Behinderung an kommunaler Planung  beteiligt werden können. Insofern war es spannend, wie die Studierenden mit dieser Aufgabe umgehen würden.

Und die Ergebnisse werden der Stadt Bochum für das ISEK zur Verfügung gestellt?

van Essen:  Ja, das ist der Plan. Wir werden gemeinsam mit dem Stadtteilmanagement überlegen, wie die Ergebnisse konkret in die Stadtentwicklung einfließen können.

Werkstatt Constantin
Beschäftigte der Werkstatt Constantin arbeiten unter anderem in der Metallverarbeitung. Foto: Werkstatt Constantin

Herr Müller, inwiefern waren Sie vor dem Projekt im Umgang mit Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen geübt?

Thomas Müller: In meinem Freiwilligendienst hatte ich in einer Tagesstätte schon mit Kindern mit Behinderungen gearbeitet. In dem Projekt war es nun die erste Begegnung mit erwachsenen Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. Ich fand das sehr spannend. Wir entwickeln hier an der hsg sehr praxisnahe Konzepte. Mit unseren Ergebnissen bin ich sehr zufrieden und hoffe darauf, dass sie auch in die weitere Entwicklung von Wattenscheid miteinfließen.

Und Sie, Herr Jureczka? Waren Sie im Umgang mit Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen geübt?

Robert Jureczka: Nein, bislang weder privat noch beruflich. Die Arbeit mit den Beschäftigten der Werkstatt Constantin war insofern für mich eine neue Erfahrung. Ich hatte zunächst gedacht, dass es schwierig wird, mich sprachlich auf mein Gegenüber anzupassen. Die Unterhaltung mit den Beschäftigten fiel mir dann aber viel leichter als gedacht. Im Gespräch erhielt ich den Eindruck, dass die Menschen isoliert leben. Über das Ausmaß der Isolation war ich überrascht.

"In dem Projekt war es nun die erste Begegnung mit erwachsenen Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. Ich fand das sehr spannend." (Thomas Müller)
Dr. Fabian van Essen (links im Bild)Thomas Müller und Robert Jureczka (rechts im Bild).
Im Gespräch über das Projekt ‚Gesundes Wattenscheid‘ (im Bild v.l.n.r.): Dr. Fabian van Essen, Vertretungsprofessor ‚Behinderung und Inklusion‘ im Department of Community Health der hsg, sowie Thomas Müller und Robert Jureczka (beide studieren im vierten Semester den Studiengang ‚Gesundheit und Diversity‘ an der hsg). Foto: hsg

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Jureczka: Fast keiner der Werkstattbeschäftigten kannte beispielsweise das Bermuda3eck in Bochum, also das Areal in der Innenstadt mit über 80 Restaurants und Gaststätten – etwa 7 Kilometer von Wattenscheid entfernt. Das hat mich schon sehr gewundert.

van Essen:  Wir haben im Dezember 2016 die Ergebnisse der Umfrage, die die Studierenden erstellt und dann mit den Beschäftigten durchgeführt hatten, zusammengetragen. Hierbei fiel auf, dass sich die sozialen Kontakte der Werkstattbeschäftigten fast durchgängig vor allem auf einen engen familiären Kreis beziehen. Soziale Kontakte außerhalb dieses Kreises sind selten.

Sie hatten in der Umfrage auf den Heimwegen von der Werkstatt nach Hause nach Themen wie Wohlfühlorte/Angsträume, Freizeit und Mobilität gefragt. An welche Antworten erinnern Sie sich?

Jureczka: Es haben sich Antworten gehäuft, in denen beklagt wurde, dass es in Wattenscheid kein Kino gibt und dass der Wattenscheider Bahnhof renoviert werden muss.

van Essen:  Die Beschäftigten sehen den Bahnhof als stark renovierungsbedürftig an, vor allem mit Blick auf Aspekte Hygiene und Barrierefreiheit. Insgesamt wurde auf zu niedrige Bürgersteige an Haltestellen hingewiesen. Außerdem haben sie sich dafür ausgesprochen, dass die Fahrpläne im öffentlichen Nahverkehr barriereärmer werden sollten. So könnten Blindenschrift, Sprachausgaben, Ampelsysteme oder Visualisierungen häufiger eingesetzt werden. Bei der Entwicklung solcher barriereärmeren Fahrpläne haben die Beschäftigten ihre Hilfe angeboten. Hinzu kommt, dass es aus Sicht der Beschäftigten zu wenig Bekleidungsgeschäfte in Wattenscheid gibt.

Herr Jureczka, wie wurden Sie auf den Umgang mit Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen vorbereitet?

Jureczka: Zum einen gab es eine Exkursion des Studiengangs nach Kiel. Dort haben wir von Menschen mit einer Behinderung, die als Dozenten tätig sind, gelernt, wie mit Menschen mit Behinderung umzugehen ist. Hier wurde uns zum Bespiel vermittelt, leichte Sprache einzusetzen.

van Essen:  Wir waren in Kiel mit einer Gruppe des Instituts für Inklusive Bildung zusammengetroffen (www.inklusive-bildung.de). In diesem Projekt werden Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen in einer dreijährigen Vollzeitqualifizierung zu Bildungsfachkräften ausgebildet, um an Hochschulen zu Themen wie Inklusion und Teilhabe zu lehren.

Jureczka: Genau. Und zum anderen haben wir uns zum Start des Projekts gut überlegt, wie wir zum Bespiel den Leitfaden der Umfrage aufbauen.

Müller: Später, bei der Befragung selbst, ist mir dann aufgefallen, dass jeder eine Frage anders aufnimmt. Wir haben ja die Beschäftigten von der Werkstatt nach Hause begleitet und auf diesem Weg unsere Umfrage durchgeführt. Zuvor hatten wir uns jede Frage der Umfrage konkret überlegt, aber im Gespräch mit den Beschäftigten musste ich dann doch Fragen umformulieren, um die konkrete Antwort zu erhalten. Oder es passierte, dass die Menschen von sich aus viel erzählt haben.

Jureczka: Wir hatten zuvor einen vierseitigen Fragebogen erarbeitet mit 20 bis 25 klar strukturierten Fragen. Wir waren auf der Suche nach präzisen Antworten. Auf dem Nach-Hause-Weg hätten sich manche Beschäftigte aber gern einfach nur unterhalten. Das hat mir gezeigt, dass die Menschen grundsätzlich mit dem Interesse an ihrer Person einverstanden waren.

van Essen:  Wir haben in dem Projekt erlebt, dass die Beschäftigten es insgesamt positiv fanden, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten wollten. Sie fühlten sich auch von den Studierenden wertgeschätzt und freuten sich darüber, dass wir sie einmal zu uns an die Hochschule eingeladen hatten.

Müller: Mein Ansprechpartner war durchaus skeptisch, obwohl er sich mit mir auch unterhalten hat. Er ließ sich aber nicht von mir nach Hause begleiten. Das war auch in Ordnung. Wir sind ein Stück spazieren gegangen.

Sie haben in der Umfrage auch nach Freizeitaktivitäten gefragt?

van Essen:  Ja, dabei ist aufgefallen, dass keine Hobbys genannt wurden, die viel Geld kosten. Auch konnte nicht jeder Beschäftigte kostenfrei in den Nachbardort fahren. Durch das sehr geringe Werkstattentgelt ist das eine echte Mobilitätseinschränkung.

Jureczka: Der Beschäftigte, den ich befragte, war Ende 30 und zweifacher Familienvater. Bei den Hobbys war nichts Spektakuläres dabei. Er geht gern spazieren, einkaufen und unternimmt viel mit den Kindern und Verwandten. Dabei klang er aber durchaus zufrieden.

Müller: Es wurde allgemein beklagt, dass es in Wattenscheid zu wenig Möglichkeiten gibt, einzukaufen. Die vielen leeren Häuser stören aus Sicht der Werkstattbeschäftigten sehr das Stadtbild und das Wohlbefinden der Bewohner.

"Dabei ist aufgefallen, dass keine Hobbys genannt wurden, die viel Geld kosten."
(Dr. Fabian van Essen)

Haben sich Ihre Erwartungen an das Projekt erfüllt?

van Essen: Es war meine Grundidee, Studierende und Menschen mit so genannter geistiger Behinderung gemeinsam etwas erarbeiten zu lassen. Ein wichtiges Ziel war es, den Studierenden zu vermitteln, dass sich die Behindertenhilfe in einem Paradigmenwechsel von einer Politik der Fürsorge hin zu einer Politik der Rechte befinden. Das Leitmotiv der Behindertenbewegung, ‚Nichts über uns ohne uns!‘, muss nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Behindertenrechtskonvention ernst genommen werden. Ich hoffe, dass die Studierenden, wenn sie in die Berufswelt gehen, Behinderte als Expert*innen für ihre eigene Lebenswelt verstehen. Das sind Werte und Vorgehensweisen, die wir nicht einfach mit einer Power-Point-Präsentation vermitteln können.

Die Grundidee scheint aufgegangen zu sein. Wie war die Resonanz Ihrer Studierenden?

van Essen: Die Studierenden haben sich sehr gut auf das Projekt eingelassen. Es fanden gute und wichtige Reflexionsprozesse statt. Ich vermute, dass einige der Studierenden nach dieser Erfahrung anders mit Menschen mit so genannten Behinderungen umgehen und sie noch besser dabei unterstützen können, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Jureczka: Mir ist sehr deutlich geworden, dass wir Menschen begegnet sind, die wir fordern und fördern können und die wir aktiv an Veränderungsprozessen teilhaben lassen sollten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Dr. Christiane Krüger, Pressesprecherin der hsg. Der Text erschien am 28. Juni 2017 im hsg-magazin.
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