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Das Bild zeigt Praxisinhaberin Alexandra Hoge (li.) und Logopädin Linda Wiacker.
Foto: privat

Wenn Kinder plötzlich verstummen

13. April 2022

Es ist ein Störungsbild, das ihr nicht mehr aus dem Kopf will. In ihrem Praxissemester absolviert Linda Wiacker, heute Absolventin des Bachelorstudiengangs Logopädie an der Hochschule für Gesundheit (HS Gesundheit) in Bochum, ein Praktikum in der Praxis für Sprachtherapie von Alexandra Hoge. Zum ersten Mal ist sie dort in die logopädische Behandlung eines Kindes mit selektivem Mutismus involviert. „Das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich über dieses Thema die Bachelorarbeit schreiben möchte“, sagt Linda Wiacker. Genau ein Jahr später interviewt die Studentin die Praxisinhaberin und erhält nicht nur wertvolle Erkenntnisse aus der Praxis für ihre wissenschaftliche Arbeit, sondern mit ihrem Studienabschluss auch einen Platz im Praxisteam.

Ein Mädchen im Schulalter sitzt im Wartezimmer. Munter spricht sie mit ihren Eltern, lacht immer wieder. Nur wenige Minuten später im Behandlungszimmer der Therapeutin verstummt es. Von jetzt auf gleich. Kein einziges Wort gelangt mehr aus dem Mädchen heraus. Kein Lachen. Die Situation, die Praxisinhaberin Alexandra Hoge beschreibt, sei typisch für Kinder, die unter selektivem Mutismus leiden. „Was man auch macht, egal wie freundlich man sie etwas fragt, auf Antwort wartet man vergebens. Das Mädchen schweigt. Nicht etwa, weil es nicht sprechen kann, sondern aus Angst, vor dem Sprechen“, erzählt Alexandra Hoge weiter. Die Diplom-Sprachheilpädagogin und Mutismustherapeutin war für mehrere Bildungsaufenthalte zum Störungsbild selektiver Mutismus in den USA. „Kinder, die unter selektivem Mutismus leiden, haben Angst vor verbaler Kommunikation. Sie können sprechen, aber sie sprechen nur mit einem kleinen ausgewählten Kreis, meistens den Eltern. Bei allen anderen, inklusive mir, verstummen sie. Ganz plötzlich geben sie keinerlei Laut mehr von sich. Je nach Schweregrad trauen sie sich nicht einmal zu husten.“ Alexandra Hoge beschreibt zwei Arten von Therapiegruppen: In der einen sind Kinder, die offensichtlich ängstlich sind, schüchtern, zurückhaltend, weinerlich, nicht aktiv. In der anderen Gruppe sind solche, die von außen als aktiv wahrgenommen werden, die sich in ihren Handlungen gegen die Therapie wehren, mit Gegenständen schmeißen und ungehorsam sind – aber ebenfalls stumm.

Linda Wiacker hat beide Gruppen in der Praxis von Alexandra Hoge gesehen, Sequenzen der Therapie unter Anleitung der Praxisinhaberin durchgeführt. Betreut von Prof. Dr. Sascha Sommer hat die 22-jährige für ihre Bachelorarbeit auf der Suche nach neuen, wirksamen Behandlungsansätzen wissenschaftliche Literatur gewälzt: „Der selektive Mutismus ist ein vergleichsweise seltenes Störungsbild. Die Zahl der Betroffenen ist gering. Bis heute konnte keine eindeutige Ursache erforscht werden, was eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Akteur*innen im Gesundheitssystem so bedeutsam macht“, sagt die Absolventin der HS Gesundheit. Alexandra Hoge stimmt ihr zu: „Von Mutismus weiß man bestimmt 100 Jahre, aber die Behandlung der Störung ist lange Zeit nur im psychologischen und psychiatrischen Bereich angesiedelt gewesen. Erst viel später ist man darauf aufmerksam geworden, dass das Störungsbild keinen rein psychologischen Hintergrund hat, sondern mit dem Sprechen zusammenhängt und auch geschaut werden muss, ob das Kind sprachliche Schwierigkeiten hat“, erzählt Alexandra Hoge. „So ist die Logopädie schließlich hinzugekommen.“

Diplom-Sprachheilpädagogin Alexandra Hoge: „Kinder, die unter selektivem Mutismus leiden, haben Angst vor verbaler Kommunikation.“

Linda Wiacker hat bei ihren wissenschaftlichen Recherchen mit Hilfe von Alexandra Hoge auch in die USA geschaut. „Interdisziplinäres Arbeiten wird dort viel gelebt. Logopädinnen und Logopäden sind immer mit im Boot. Dort steht auch schon länger der verhaltenstherapeutische Ansatz, also das aktuelle Verhalten des Kindes im Fokus, nicht nur der rein psychologische Ansatz, der auf die Lebensgeschichte, auf das Elternhaus des Kindes blickt“, erklärt Linda Wiacker. Alexandra Hoge nickt. „Zumindest was die Ängstlichkeit betrifft, ist eine besondere Rolle des Elternhauses nicht ausgeschlossen. Eltern, die mit der Einstellung durchs Leben gehen, dass alles eine Herausforderung ist, die jeden Schritt als viel zu riskant empfinden, können die Ängstlichkeit auf das Kind übertragen, was dazu führen kann, dass auch das kommunikative System nicht mehr als sicher empfunden wird. Eine Frage in der logopädischen Therapie ist es also auch zu schauen, wie sicher sich das Kind mit Sprache fühlt.“

Alexandra Hoge hat vieles in den USA über selektiven Mutismus gelernt und dort ihren Weg, das Störungsbild zu behandeln, gefunden. Sobald ein Kind das erste Wort mit ihr gewechselt hat, holt die Kooperationspartnerin der HS Gesundheit ihre sogenannte Sprechlandkarte hervor. Eine Karte, auf der alles Wichtige aus dem Leben des Kindes einen Platz hat – Familie, Schule, Freizeitaktivitäten. „Alle Menschen im Umkreis des Kindes befinden sich auf der Karte. Gemeinsam mit dem Kind gehe ich Schritt für Schritt durch, mit welchen Menschen – Verwandten, Lehrern, Mitschülern – es schon einmal ein Wort gesprochen hat, ob es Angst beim Sprechen hatte und mit welchen es noch kein einziges Wort gewechselt hat. Jede Person gehen wir durch und versuchen sie aus dem nicht-sprechenden Bereich in den sprechenden Bereich zu versetzen, auch das anhand amerikanischer Therapietechniken“, erklärt Alexandra Hoge. „Zu sehen, wie die Kinder mit den Therapiestunden Fortschritte machen, wie sie ihre ersten Worte sprechen“, Linda Wiacker lächelt kurz. Dann ergänzt sie: „Das ist toll.“

Logopädie-Absolventin Linda Wiacker: „Ich fand es spannend, in meiner Bachelorarbeit ein seltenes Störungsbild behandeln zu dürfen.“

Praxisinhaberin Alexandra Hoge und Logopädin Linda Wiacker raten Eltern, die bei ihrem Kind Anzeichen für Mutismus entdecken, frühzeitig einen Kinderarzt aufzusuchen. „Das ist ein anstrengender Lebensalltag, den das Kind durchlebt und für sein Selbstwertgefühl eine Katastrophe“, sagt Alexandra Hoge. Eine wichtige Station sei der Kindergarten: „Wenn das Kind dort nicht spricht, und zwar nicht nur in der ersten aufregenden Woche, sondern über Monate hinweg, sich aber sonst überall dort beteiligt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind an Mutismus leidet, zumindest gegeben. Und spätestens in der Schule wird der Kommunikationsradius größer, dann ist es nicht gut, wenn sich das Kind nicht weiterentwickelt. Daher halte ich es für wichtig rechtzeitig und früh einen Arzt aufzusuchen.“

Ihr Tipp für Eltern? „Nerven behalten und Hilfe holen“, sagt Alexandra Hoge ohne zu zögern. „Kein Kind ist absichtlich so. Kein Kind möchte durchs Leben gehen und Angst vor dem Sprechen haben. Aber wenn nichts dagegen getan wird, wird sich auch nichts bessern, denn Mutismus geht nicht von allein weg.“ Linda Wiacker ergänzt: „Zumal das Kind in der Schule zum Außenseiter werden könnte, wenn es nicht spricht.“ Die Absolventin der HS Gesundheit denkt gern an ihre Studienzeit und Bachelorarbeit: „Ich fand es spannend, in meiner Bachelorarbeit ein seltenes Störungsbild behandeln zu dürfen. Die Zeit war nervenaufreibend, zumal man kurz vorher auch sein Staatsexamen macht, da man mit dem Studium an der HS Gesundheit gleich zwei Abschlüsse erwirbt, den Bachelor of Science und die Berufszulassung. Aber ich habe genau das richtige Thema gehabt, bei dem mir nie langweilig wurde und an dem ich auch künftig unbedingt dranbleiben möchte.“

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